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Ausgabe 106-2/2006

KAMATAKI

Produktion: Zuno Films / Toru Kanzaki, Shiga-Ken Satellite Broadcasting; Kanada / Japan 2005 – Regie, Drehbuch, Schnitt: Claude Gagnon – Kamera: Hideho Urata – Musik: Jorane – Darsteller: Matt Smiley (Ken-Antoine), Tatsuya Fuji (Takuma), Kazuko Yoshiyuki (Kariya Sensei) u. a. – Länge: 110 Min. – Farbe Weltvertrieb: Filmoption International, e-mail: nrybina@filmoption.com – Altersempfehlung: ab 14 J.

Ken-Antoine ist lebensmüde. Mit 22 Jahren springt er von einer Brücke und überlebt wie durch ein Wunder. Seine ratlose Mutter schickt ihn Hilfe suchend zu Onkel Takuma, meisterhaft gespielt von Tatsuya Fuji. Der japanische Lebenskünstler und weltbekannte Töpfermeister nimmt seinen Neffen in eben diesen Disziplinen als Schüler an. Obwohl er äußerlich seinem verstorbenen Bruder und Vater von Ken gleicht, unterscheidet sich Takumas Lebenseinstellung grundsätzlich von dessen Weltsicht: Er lebt und ist im aktuellen Moment. Analysen und Beurteilungen überlässt er anderen.

Leise und resigniert führt Ken die Weisungen seines Onkels aus. So wirft er bereits am Bahnhof seine Zigaretten in den Müll und erklimmt täglich den Berg, um direkt von der Quelle gesundes frisches Wasser zu holen. Verwundert erlebt er das Ritual des Rasierens mit Seife und Rasiermesser, das der Onkel aus reinem Vergnügen anordnet. Mit dem Vergnügen tut sich Ken schwer, ebenso mit dem, was er vom Leben will. Die Ausstellungseröffnung von Takumas Werken in der Stadt eskaliert in einem Streit um die unbekümmerte und genussvolle Haltung des Onkels zur Sexualität. Während sich der Ältere am Austausch von Zärtlichkeiten erfreut, kommt den Jüngeren "das ganze Sex-Ding" quer an. Im Zorn setzt er sich alkoholisiert ans Steuer, um zurück in die Berge zu fahren. Als Takuma ihn jedoch von der Polizeiwache abholt, wo seine nächtliche Fahrt unweigerlich endet, rügt er Ken wegen dessen Verhalten gegenüber den Frauen, nicht wegen der Verhaftung.

Der unerwartete Tadel (das andere ist doch "nur" Geld) weckt die Neugier Ken-Antoines. Er beginnt, die Arbeit seines Onkels aufmerksam zu betrachten und ihn verstört, was er sieht: Das offensichtlich Grobe und Hässliche ist interessant, manches schön. Ken bittet seinen Onkel, bleiben zu dürfen. Er will dieses Rätsel verstehen und nimmt somit seine Lebensaufgabe an. Ken hat seinen Krug geleert und will ihn mit dem, was er von seinem Onkel lernen kann, füllen. Mit Hilfe der Elemente kommt Ken auf den Weg zu sich selbst. Die Kraft des Feuers lehrt ihn die notwendige Disziplin, dieses am Leben und in der richtigen Temperatur zu halten. Den mühseligen Weg auf den Berg zur Quelle gestaltet sich Ken nach eigenen Bedürfnissen. Mit der Befreiung von seinen Vorurteilen über Schönheit überwindet Ken die letzten Hemmnisse und erlangt einen neuen Funken Lebensfreude. Wird er ihn zu einem ausdauernd brennenden, kreativen und nährenden Feuer anfachen können?

In eindrücklichen und poetischen Bildern zeigt Claude Gagnon, der bereits 1988 auf dem Kinderfilmfest der Berlinale mit seinem von der Unesco und Unicef ausgezeichneten Film "Kenny" große Beachtung fand, die innere Entwicklung seines Protagonisten. Feuer, Wasser und Liebe kommen zusammen und aus dem "Urschlamm" Ton, dem unfertigen und lustlosen Menschen, wird ein kunstvolles Werk geformt und gebrannt, das durch seine Energie und Freude begeistert und durch seine Einzigartigkeit Aufmerksamkeit einfordert. Das Feuer, mit dem der Keramikofen geschürt wird, symbolisiert die diszipliniert zu schürende Lebensenergie, die erschaffen aber auch zerstören kann. Beraten wurde Gagnon in Fragen des Kamataki, dem Brennen glasurfreier Keramik, von Shiho Kanzaki. Diese Jahrtausende alte Tradition wurde von ihm in den 1970er-Jahren in der Region Shigaraki wieder ins Leben gerufen und Gagnon drehte seinen Film hier. Glasurfreies Brennen bedeutet, dass die Keramiken durch den Brennprozess im Ofen mit Flugasche besetzt werden, die mit der Keramik in der Gluthitze von roter zu weißer Flamme verschmilzt. Mit diesen Symbolen schafft Gagnon explizite Verweise auf die inneren Zustände des Protagonisten, ohne dabei in Klischees zu verfallen. Kunstvoll setzt er Anspielungen auf Mythen ein und nutzt deren Bilder, um seiner Geschichte zusätzliche Tiefe zu verleihen.

Gagnon zeigt den resignierten jungen Mann, glaubhaft und einnehmend gespielt von Matt Smiley, der sich in der Auseinandersetzung mit den Elementen sein eigenes Leben gestaltet und einrichtet, bis er zum Meister seines eigenen Seins wird. Als Zeichen der Genesung erhält Ken von seinem Onkel ein scharfes Rasiermesser – eine Liebeserklärung, die er vermutlich so nie von seinem Vater bekommen hat. Als besonderer Gast darf er in den besonderen Raum seines Onkels eintreten, in dem dieser sein kindliches Vergnügen hütet: eine Sammlung Rasiermesser. Der Schüler, der von seinem Lehrer Leben und Arbeiten lernt, erlangt die endgültige Befreiung von seinen Ängsten, Vorurteilen und Beschränkungen, indem er die Lippen der Muse berührt und den Liebesakt mit Kariya Sensei, der Witwe von Takumas Lehrer, vollzieht. Frei und inspiriert kann er nun seinen Lebensweg gehen.

Bereits auf dem 29. Montreal World Film Festival erhielt "Kamataki" mehrere Preise, unter anderen den FIPRESCI Award. In Berlin wurde der Film von der Jugendjury bei 14plus mit einer Lobenden Erwähnung ausgezeichnet. Für den Regisseur besonders bemerkenswert: die Altersspanne seines Publikums. "Kamataki" hatte Erfolg sowohl bei Rentnern in Palm Springs als auch bei Teenagern im 14plus Programm der Berlinale.

Bettina Ueberlein

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 107-2/2006 - Interview - "In meinen Filmen spiele ich mit sozialen Vorurteilen und falschen Bildern"

 

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Ausgabe 106-2/2006

 

Inhalt der Print-Ausgabe 106-2/2006|

Filmbesprechungen

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Interviews

Duve, Sarah - "All das kann nur über die Lehrer funktionieren"| Kedzierzawska, Dorota und Arthur Reinhardt - "Wir wollten von einem Jungen erzählen, der eine schöne Seele hat"| Oplev. Niels Arden - "Es ist der persönlichste Film, den ich bisher geschrieben und gedreht habe"| Schreitmüller, Andreas - Gespräch mit Andreas Schreitmüller| Solito, Auraeus und Raymond Lee - "Ja, wir sind arm, aber nicht im Geist!"|

Hintergrundartikel

... am Anfang hörte es sich wie Krach an ...|

Kinder-Film-Kritiken

Die Wolke|


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