(Interview zum Film BEN X)
KJK: Ihr Film basiert auf einer wahren Geschichte. Danach hat sich ein 17-jähriger Junge 2002 vom Turm einer Burg in Gent gestürzt, weil er gedemütigt, gequält und virtuell gemobbt worden war. In der Zeitung hieß es, er habe an einer leichten Form von Autismus gelitten. Dass gemobbt wird, steht außer Frage. Aber dass Behinderte gemobbt werden, wurde von einigen Kritikern bezweifelt. War das im Fall dieses Jungen nicht doch ein besonders schrecklicher Ausnahmefall?
Nic Balthazar: "In Wahrheit ist die Geschichte noch viel grausamer und schmerzlicher als ich sie in dem Film zeigen konnte – und sie ist leider kein Einzelfall. Bei einem Autisten denken ja alle Menschen nur an den 'Rain man', aber es gibt sehr viele Formen dieser Behinderung und die meisten Autisten werden gar nicht als solche erkannt. Oft bleibt ihre Behinderung für die anderen unsichtbar, weil sie sich bewegen wie wir, sprechen wie wir, nur, dass sie sich anders verhalten als wir. Weil ihr Kopf ganz anders programmiert ist, wirken sie unzugänglich und gefühllos und oft auch nicht nett. Man sagt ja nicht umsonst, der Ton macht die Musik, aber gerade den können sie nicht treffen. Wir verfügen über die berühmten 32 Arten zu lächeln, ihnen aber steht keine einzige zur Verfügung. Sie können deshalb andere nur schwer für sich einnehmen. Sie können weder lügen noch unterscheiden, wer es übel oder gut mit ihnen meint – in Bezug auf die Gesellschaft sind sie regelrecht blind.
Aber nicht der Autismus ist ihr Problem, wir sind es, wir sind ihr großes Problem! Wir machen ihnen das Leben zur Hölle, weil wir aus Unwissenheit unmögliche Anforderungen an sie stellen. Seit nunmehr fünf Jahren beschäftige ich mich mit diesem Thema – erst für mein erstes Buch, dann für mein erstes Theaterstück und schließlich für meinen ersten Film – und Sie können mir glauben, in dieser Zeit habe ich so viel Schreckliches von ihnen, aber auch von ihren nicht weniger betroffenen Angehörigen und auch von jenen gehört, die sie gequält haben – die Haare würden Ihnen zu Berge stehen, wenn Sie wüssten, wie furchtbar sie erniedrigt und gedemütigt werden."
Ihr Film führt uns ja eindringlich genug vor Augen, was diese Menschen erleiden müssen. Kann er auch etwas für sie bewirken?
"In Belgien hat der Film die Realität allein schon dadurch verändert, dass es nach den Vorführungen in den Schulen, in Zeitungen, im Funk und im Fernsehen zahlreiche Diskussionen über Autismus und Mobbing gab. Dadurch wurde das Problembewusstsein geschärft und seit der Premiere im September 2007 erreichen uns täglich zahlreiche e-mails mit Fragen, Bitten um Aufklärung und jede Menge Erfahrungsberichte von Tätern, Opfern und ihren Angehörigen. Und jetzt, nachdem sich Marijike Pinoy, die Darstellerin von Bens Mutter und selbst Mutter eines autistischen Sohnes, mit dem belgischen Erziehungsminister getroffen hat, wird ein Programm entwickelt, das betroffenen Kindern helfen soll, im normalen Schul-Alltag Fuß zu fassen. Sie sollten ja nicht auf irgendwelche Sonderschulen weggesperrt werden, sondern die Möglichkeit haben, zusammen mit Nicht-Behinderten zu lernen! Wenn alle wissen, was bei Menschen mit autistischer Störung nicht so funktioniert wie bei uns, könnte anstatt des Befremdens Verständnis und Mitgefühl für sie entstehen. Wenn Sie mich also fragen, ob ein Film die Welt verändern kann, sage ich: Ja. Ich glaube daran!"
Neben Autismus und Mobbing behandelt Ihr Film auch so aktuelle und wichtige Themen wie Entfremdung, Realitätsflucht, Ausgrenzung und Selbstmord. Besonders eindrucksvoll und wichtig fand ich, dass Scarlite genau benennt, welche Qualen einen bei welcher Art Freitod erwarten.
"Wenn man sich vorstellt, dass Selbstmord die zweithäufigste Todesursache bei Jugendlichen ist und allein bei uns in Belgien jeden Tag sieben Jugendliche ihrem Leben ein Ende machen, ist das mehr als alarmierend. Aber nicht nur bei uns, auch in den skandinavischen Ländern oder in Deutschland, also in den bestentwickelten Industriestaaten, ist die Suizid-Rate atemberaubend hoch. Wir sind so reich, aber wir ruinieren unser und das Leben anderer – was ist da los? Es flüchten sich ja nicht nur Autisten wie Ben per Video-Game aus der Realität. Es gibt viele Jugendliche, die täglich sechs, sieben Stunden vor dem Computer sitzen und dabei zwangsläufig den Kontakt zur sozialen Alltags-Welt verlieren. Diese Entfremdung ist ja auch eine Form des Autismus. Andererseits ist die virtuelle Welt auch wirklich verführerisch. Hier kann man viel leichter Kontakte knüpfen als sonst, hier kann auch der Schwächste stark sein – allein der Level, der über dem Kopf steht, entscheidet und bestimmt dein Prestige. Ich wollte die Video-Spiele auch keinesfalls pauschal als brutale Gehirnverblödung verteufeln – schließlich nähern wir uns einer Zukunft, in der man sich online verlieben, eine Beziehung führen und ein Leben leben kann, das wahrscheinlich abenteuerlicher ist als wir es uns in unserem Alltag jemals erträumen können. Sicherlich ist die Gewalt in der virtuellen Welt eines der größten Probleme, aber hier wird nur verstärkt, was es in unserer Welt eh schon gibt."
Peter Bouckaert, einer Ihrer Produzenten, hat erzählt, dass Sie für Ihren Film lange nach dem richtigen Fantasy-Spiel gesucht und es schließlich in dem koreanischen Spiel "Archlord" gefunden haben, das gerade von "Codemasters" für den Westen bearbeitet wurde.
"Und zum Glück – denn 'Ben X' ist ja ein Low-Budget-Film – waren die Produzenten von unserer Idee so begeistert, dass sie uns nicht nur die Rechte umsonst überlassen, sondern auch die von uns entwickelten Figuren in ihr Spiel integriert haben, also Scarlite, die beiden Mobber und natürlich Ben mit der x-förmigen Narbe im Gesicht. Und wir haben zum ersten Mal im Film mit virtuellen Schauspielern gearbeitet – das war eine echte technische Innovation. Wir haben uns dafür fünf verschiedene Spieler mit Level 90 gesucht, die die vier Spielfiguren und unsere Kamera nach meinen Anweisungen führen mussten. Alle für den Film wichtigen Szenen wurden dann aus der Perspektive der im Spiel unsichtbaren Kamera online gedreht, vom Monitor in einer Super-Auflösung abgenommen und in den Film eingearbeitet."
Indem Sie diese virtuelle Welt in die Spielhandlung integriert und mit Elementen der Fernseh-Dokumentation vermischt haben, ist es Ihnen gelungen, bei Ihrem Debüt-Film eine besonders das Zielpublikum ansprechende Filmsprache zu entwickeln.
"Der Film ist ja eigentlich eine klassische Rachetragödie in drei Akten nach amerikanischem Muster und die wollte ich in einer vollkommnen anderen Art erzählen – mit mehreren Dimensionen, immer neuen Wendungen und Irreführungen, sozusagen als Puzzle, das sich der Zuschauer zusammensetzt. Orientiert habe ich mich an der Art, wie die jungen Leute mit Bildern umgehen. Mich fasziniert, mit welcher Schnelligkeit sie eine unglaubliche Bilderflut aufnehmen, kombinieren und zusammenfügen können. Rechts haben sie ihre Videospiele, links die Chatboxes, in der Hand das Handy und auf der gegenüber liegenden Wand ist der Fernseher an – und sie sind tatsächlich imstande, nicht nur all diese Bilder aufzunehmen, mit einem Finger-Schnippen ständig hin- und herzuschalten und diese 'zapping image culture' tatsächlich zu verstehen, sondern auch noch zu etwas Neuem zusammenzufügen."
Gab es das überraschende Ende bereits in Ihrem Buch oder im Stück?
"Nicht so überwältigend wie im Film. Ich möchte darüber auch nichts verraten, nur dass ich von Anfang an den Glauben stützen wollte, dass es auch aus der größten Verzweiflung einen Ausweg gibt. Dazu gehört eben Mut – und Mut brauchen ja Leute wie Ben, um mit ihrer Behinderung in unserer Welt leben zu können. Und Mut brauchen auch ihre Angehörigen, meistens die Mütter, die ihr Kind nie aufgeben und gegen das Gift in unserer Welt zu schützen versuchen. So gesehen ist das Ende auch eine Hommage für die Autisten und ihre Familien – denen wir übrigens auch mit dem Untertitel unseres Films huldigen. Der heißt übersetzt nämlich: 'Alles ist eine Frage des Mutes' – und genau diesen Satz hat uns Eva Bal, die 1978 in Gent ein Theaterzentrum für Kinder und Jugendliche gegründet hat, für unser Leben mit auf den Weg gegeben.
Wie ist es denn bei Ihnen weiter gegangen?
"Wie im Klischee. Als ich merkte, dass ich nicht genug Talent hatte und nur ein 'guter schlechter Schauspieler' werden würde, beschloss ich Regisseur zu werden und als das nicht so klappte, Kritiker, d. h. während meines Studiums und auch danach noch habe ich für kleinere Theater inszeniert und Kritiken für Zeitungen geschrieben, dann im Radio über neue Filme gesprochen, Talkshows geleitet und Reise-Reportagen gedreht, bis 2002 dann 'Ben X' auf mich zukam und mich seither nicht mehr loslässt. Im Moment verhandeln wir gerade über ein Remake von 'Ben X' für Amerika. Mal sehen, was draus wird."
Mit Nic Balthazar sprach Uta Beth
Inhalt der Print-Ausgabe 114-2/2008
Filmbesprechungen
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