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Ausgabe 19-3/1984

"Däumelinchen"

(Hintergrund zum Film DÄUMELINCHEN)

Auf der Suche nach einem Anfang

Wie immer sind viele Anfänge möglich. Wem aber gar nichts einfällt, der kann ganz unbeschwert die Lichter ausgehen lassen und im Kinodunkel auf die Kraft und die Schönheit des "Däumelinchen"-Films vertrauen. Wer aber das Märchen vorher gelesen hat, der könnte z. B. mit den Kindern darüber nachdenken, woher eigentlich die Geschichtenerzähler ihre Geschichten haben. Das ist bei der Däumelinchen-Geschichte deshalb besonders reizvoll, weil der Dichter selber darüber Auskunft gibt. Es genügt, den schönen Märchenschluss vorzulesen: "'Lebe wohl, lebe wohl!' sagte die kleine Schwalbe und flog wieder aus den warmen Ländern fort, nach Dänemark zurück. Dort hatte sie ein kleines Nest über dem Fenster, wo der Mann wohnt, der Märchen erzählen kann. Ihm sang sie ihr 'Quivit, quivit!' vor. Daher wissen wir die ganze Geschichte."

So ins Nachdenken verstrickt, wäre jetzt ein fruchtbarer Augenblick dafür, den Kindern etwas von dem dänischen Märchendichter zu erzählen. Hans Christian Andersen (1805-1875), der Schustersohn aus Odense, hatte selber – wie die kleine Schwalbe – eine Zugvogelnatur. Ein Leben lang durchreise und durchwanderte er ganz Europa. Er wurde zu immer neuen Geschichten angeregt, die er dann zu Hause in Kopenhagen aufschrieb. Einige davon sind so bekannt, dass sie vielleicht den Kindern selber einfallen: Das hässliche Entlein; Die Prinzessin auf der Erbse; Des Kaisers neue Kleider ... Und Andersen selber war so berühmt, dass ihn auf seinen Reisen ganze Scharen von Kindern empfingen und begrüßten. Wer mehr und Genaueres wissen möchte, der greife zu der Rowohlt-Bildmonographie Nr. 5 über Hans Christian Andersen und zu dessen autobiografischen Skizzen "Märchen meines Lebens", die als Insel Taschenbuch Nr. 356 vorliegen.

Und wie ist Lotte Reiniger an das Däumelinchen geraten? Auch hier kann man davon erzählen, wie sie Zeit ihres Lebens die Märchen von Andersen liebte. Schon 1921 machte sie sich daran, den "Fliegenden Koffer" ins Medium des Silhouettenfilms umzusetzen. Und noch im Jahr vor ihrem Tod griff sie zur Schere und schnitt Illustrationen zu dem Märchen "Die kleine Seejungfrau".

Wie der Film das Märchen erzählt

Lotte Reinigers Bildphantasie genügt die Skala der Grau- und Schwarztöne, um daraus eine Bildergeschichte hervorzuzaubern, deren Schönheit im Zuschauer nachwirkt. Sie öffnet einem zugleich die Augen für die Welt der Pflanzen und der kleinen Tiere, in der ja Däumelinchens Märchenabenteuer spielt.

Inmitten einer Wiese wächst eine herrliche Blume. Ihre Blüte öffnet sich und ein winziges, höchst anmutiges Mädchen sitzt auf den Staubgefäßen: "Es war nicht größer als ein Daumen, deswegen wurde es Däumelinchen genannt."

Überrascht und entzückt bemerkt eine hässliche Kröte das Däumelinchen: "Das wäre eine schöne Frau für meinen Sohn." Und ehe es sich versieht, ist Däumelinchen gefangen: Auf einem Seerosenblatt in der Mitte des Flusses. Doch die Fische, die unten im Wasser schwimmen, haben alles mitgehört. Sie scharen sich um den Stängel, nagen ihn durch, und das Seerosenblatt treibt den Fluss hinab, weit fort von der garstig quakenden Kröte. Däumelinchen ist frei, und die Fische freuen sich. Ein Schmetterling umflattert sie und zieht das Seerosenblatt samt Däumelinchen an einem Gürtelband in eine verwunschene Flusslandschaft hinein. Dort hüpft Däumelinchen ans Ufer und erlebt einen Sommer und einen Herbst voll heiterer Spiele zwischen Pilzen, Sträuchern, Farnen und Blumen. Ein lustiger Käfer umschwirrt sie, ein vergnügt zwitschernder Vogel sorgt für Unterhaltung und ein zum Spielen aufgelegtes Eichhörnchen vertreibt Däumelinchen die Zeit. Die ersten Schneeflocken fallen und der Winter hält Einzug. Bei der guten alten Feldmaus findet Däumelinchen Unterschlupf: "Du kannst den Winter über bei mir bleiben, aber du musst meine Stube sauber halten." Besuch kündigt sich an: Ein reicher Maulwurf mit samtenem Pelz und Zylinder. Es ist schon vergnüglich, wie tapsig er sich bewegt und seine Zigarre im Schaukelstuhl raucht. Doch Däumelinchen erschrickt, weil der Maulwurf anfängt, sie anzuhimmeln und ihr einen Heiratsantrag macht. Ein Leben tief unter der Erde ist nicht nach ihrem Geschmack. Am Hochzeitstag geht Däumelinchen ein letztes Mal hinaus, um Lebewohl zu sagen: den Pflanzen, den Tieren, der Sonne und dem Himmel. Eine Schwalbe sitzt erschöpft im Geäst und kann ihren Flug gen Süden nicht fortsetzen. Däumelinchen klagt über ihr Leid. Und sie beschließen, gemeinsam in die warmen Länder zu fliegen. Auf dem Rücken der Schwalbe, hoch über die verschneiten Alpen, geht der Flug nach Griechenland. Dort gehen Däumelinchens schönste Blütenträume in Erfüllung. Sie bekommt ein Paar Flügel und wird in den Kreis der Blumenengel aufgenommen: Ein Happy End im Blumenland!

Was man nach dem Ansehen des Films tun kann

Der Däumelinchen-Film ist so schön, dass er einerseits zu ästhetischen Umsetzungen, andererseits zu wirklichkeitserschließenden Aktionen einlädt. Wie steht es heutzutage um die Däumelinchen-Welt der Pflanzen und Tiere? Sie zu suchen, zu erkennen und zu erhalten, kann Anlass zu vielfältigen DäumelinchenProjekten werden.

1. Malaktionen und Ausstellungen: Malen, was mir am besten gefallen hat! Mein Lieblingsbild! Wer so ansetzt, muss damit rechnen, dass sich einige Bilder wiederholen: Däumelinchen auf dem vom Schmetterling gezogenen, Seerosenblatt; der Maulwurfsbesuch in der Baumhöhle der Feldmaus; der Tanz mit den Blumenengeln ... Kinder kommen beim gemeinsamen Betrachten schnell darauf, welche Bilder und Szenen fehlen. Diese können in erneutem Anpacken leicht ergänzt werden. Und alles was dabei herauskommt, kann man zu einer kleinen Ausstellung gruppieren. Eine Wandfläche, eine Pinnwand oder zusammengezimmerte Stellflächen genügen für eine einfallsreiche Däumelinchen-Ausstellung.

Was man bereitlegen muss für eine solche Aktion? Das hängt vom Alter der Kinder und dem ab, was man sich vornimmt. Wer mit Filzschreibern und Holzstiften arbeitet, der ist auf das A5-Format verwiesen. Wachsmalstifte verlangen A4 und A3. Wer sich für Plakafarben und Dispersionsfarbe entscheidet, dem sind kaum noch Grenzen gesetzt: A2, A1, Tapeten ... Und dazu ein Malerkittel. Die verschiedenen Techniken lassen sich auch kombinieren. Was nahe liegt, wird leicht übersehen: Schwarzes Tonpapier und darauf mit weißen Wachsfarbstiften arbeiten. Bei Stockmar gibt es diese auch im Karton mit jeweils 12 Stück. Die Ergebnisse sind höchst eindrucksvoll.

2. Auf Däumelinchen-Safari: Man kann die Däumelinchen-Welt immer erneut im Kinodunkel auf sich wirken lassen, man kann sie malend in Bildern reproduzieren – und man kann sich die Augen reiben, um sie in der realen Welt aufzuspüren. Die Weiden am Fluss, die Farne, die Gräser, die Glockenblumen, die Käfer, Schmetterlinge und Schwalben ... Es lohnt sich, sie kennen zu lernen und zu beobachten. Lotte Reiniger hat sich zeitlebens darum bemüht. Vielleicht lässt sich verwirklichen, was sie für ihr Leben gern machte: Besuche in botanisch-zoologischen Gärten! Wir müssen auf Safari gehen. Safari heißt auf Kisuaheli "Fußmarsch". Zu Fuß durch Gärten, Höfe, Parks; hinaus auf Wiesen, an Flüsse, in Wälder. Was wächst da? Was blüht dort? Was fliegt da? Selbst wo alles zuzementiert ist, halten sich noch Überbleibsel der Däumelinchen-Welt: Löwenzahn, Wegerich, Rispengras usw. Auf einer Stadt-Safari lässt sich viel beobachten und finden. Was an Blumen, Sträuchern und Bäumen zusammenkommt, reicht für eine weitere Ausstellung. Gläser dafür stehen überall herum und Namensschilder sind schnell geschrieben. Wer so etwas mit Kindern (und Eltern) vorhat, der muss sich natürlich zunächst einmal selber einarbeiten. Informationsmaterialien gibt es genügend. Sehr schön sind die Naturbilderbücher von Irmgard Lucht im Ellermann-Verlag: Die Grüne Uhr; Die Baum-Uhr; Die Garten-Uhr; Die Vogel-Uhr.

3. Däumelinchen-Projekte: Ein letzter Schritt ist möglich und heutzutage notwendig. Dabei geht es um handgreifliches Tun nach dem Motto: Rettet die Däumelinchen-Welt! Man kann zusammen mit Kindern etwas tun, um die Pflanzen- und Tierwelt zu schützen und zu erhalten. Große Fensterflächen werden zu Todesfallen für Vögel. Man kann sie gemeinsam mit Klebebildern versehen, damit sie keiner Däumelinchen-Schwalbe zum Verhängnis werden. Im Garten kann man eine Vogeltränke anlegen. Es muss nicht gleich ein Teich sein, schon eine kleine Pfütze genügt. Als Futterstelle für Däumelinchen-Schmetterlinge muss ein "Unkrautbeet" her. So etwas geht schon in einem Kasten auf dem Balkon. Man kann einen Däumelinchen-Garten anlegen oder eine bunte Däumelinchen-Wiese entstehen lassen. Auch das geht schon in Blumentöpfen, Kästen und Trögen ...

Die Richtung ist klar, und wie immer: Was hier geschrieben steht, hat nur Anregungscharakter. Hinweise findet man überall, nicht zuletzt in den Veröffentlichungen des Bundes für Umwelt und Naturschutz in Bonn.

Ewald Heller

 

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