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Ausgabe 39-3/1989

SIDEWALK STORIES

Produktion: Rhinoceros Productions / Howard M. Brickner, USA 1989 – Regie und Drehbuch: Charles Lane – Kamera: Bill Dill – Schnitt: Anne Stein, Charles Lane – Musik: Henry Gaffney – Darsteller: Charles Lane (der Künstler), Nicole Alysia (das Kind), Sandye Wilson (die junge Frau), Darnell Williams (der Vater), Trula Hoosier (die Mutter), Michael Baskin (der Portier) u. a. – Laufzeit: 97 Min. – s/w – Weltvertrieb: Recorded Releasing, 66-68 Margret Street, London W1 7FL

Ein Film wie "Sidewalk Stories" dürfte eigentlich keinen Erfolg haben: Er ist in schwarzweiß gedreht, ohne Dialoge ein Stummfilm (sieht man mal von den letzten zwei Minuten des Films ab), Musik ersetzt die Sprache, und es geht um die "homeless-people", um Menschen, die ohne festes Zuhause ihr Leben fristen. Dennoch mauserte sich "Sidewalk Stories" während des Münchner Filmfestes zu einem Geheimtipp. Vielleicht, weil es inmitten der sonstigen bunten, lauten und lärmenden Bilderflut einfach eine Erholung war, animierende Schwarzweiß-Bilder ohne ständige Textkleisterei zu genießen.

Die Geschichte, eigentlich ein modernes Märchen, ist schnell erzählt: New York, Greenwich Village. Das Ambiente erinnert auf den ersten Blick an Paris. Künstler oder solche, die es werden wollen, malen oder zeichnen Porträts, ein buntes Völkchen hält sich auf den Gehsteigen auf. Erst beim zweiten Blick merkt man die Unterschiede. Die Geschäftsleute hasten vorbei, die Künstler müssen um jeden Kunden kämpfen und versuchen auch schon mal, dem Konkurrenten mit nicht ganz sauberen Mitteln einen Kunden auszuspannen. Denn die meisten von ihnen sind obdachlos, schlagen sich so durch, nur der Moment ist wichtig, die Zukunft zu weit weg.

Da ist der Protagonist, ein junger schwarzer Künstler, der sich mit Porträtzeichnen über Wasser hält, nachts in einem Abbruchhaus im Keller schläft. Eines Tages kommen die skurrilsten Menschen zu ihm, um sich zeichnen zu lassen: Ein Spieler mit seiner Frau und zweijähriger Tochter, ein weißer Angestellter, eine vornehme junge Frau. Als er nachts unterwegs ist, wird er Zeuge eines Mordes: Der Spieler wird von einer Straßengang erstochen. Aus Mitleid nimmt er sich des kleinen Mädchens an und schiebt den Kinderwagen aus der gefährlichen Gegend, lässt ihn aber schon bald mitten auf einer belebten Straße stehen – in der Hoffnung, ein Passant würde sich um das Kind kümmern. Da jedoch niemand Notiz nimmt, packt er es und will so lange für das Mädchen sorgen, bis er dessen Mutter gefunden hat, deren Foto er herumzeigt – ohne Erfolg. Zwischen dem Künstler und dem kleinen Mädchen entsteht so etwas wie Freundschaft und Komplizenschaft. Er stiehlt sogar Kleider und Spielzeug, um ihm eine Freude zu machen. Dabei trifft er auch wieder auf die vornehme schwarze Lady, die sich bei ihm zeichnen lassen wollte, und die großzügig alles für ihn bezahlt, Mann und Kind sogar zu sich einlädt. Das Paar kommt sich – wenn auch erst einmal in der Phantasie – näher. Nach einigen Schwierigkeiten und Abenteuern findet der Künstler auch die Mutter des Kindes wieder und alles geht seinen geordneten Gang ...

Multi-Talent Charles Lane (machte alles: Regie, Drehbuch, Schnitt, Produktion und Schauspieler) bekam die Idee zu diesem Film, als er mal mit der U-Bahn von einem Boxkampf in Brooklyn kam und mit Menschen konfrontiert wurde, die im reichsten Land der Welt auf der Straße leben, sich mit einem Minimum über Wasser halten müssen. Seine Helden sind "Anti-Helden", die sich irgendwie durchschlagen, aber dennoch nicht abgestumpft sind. Ihr Potenzial ist Einfallsreichtum und Improvisationsgabe.

Wie in einem richtigen Märchen spielt natürlich auch "Glück" eine wesentliche Rolle. So hat der Künstler Glück und Pech: Seine Bleibe fällt der Spitzhacke zum Opfer, gleichzeitig trifft er die schwarze Frau aus der Mittelschicht wieder, die wie eine gütige Fee ihre Hände über das Duo Mann/Kind hält und sie zu sich einlädt. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, wenn der Schwarze erst das Mädchen badet und dann selbst noch in die Wanne hüpft, ein Vergnügen, das er wohl selten genießt. Oder: Mit seinen Porträts verdient er nur wenig Geld. Als aber das kleine Mädchen aus Spaß auf dem Papier herumschmiert, erregt dies Aufsehen, diese "Kunst" geht weg wie die berühmten "warmen Semmeln".

Lane nimmt nicht den Holzhammer, um gesellschaftliche Probleme aufzuzeigen. Wenn die weiße, strenge Bibliothekarin den Künstler und das Kind aus dem Lesesaal wirft, kommt Kinderfeindlichkeit und Rassismus ebenso heraus wie in der Szene, in der der weiße Portier partout den Schwarzen samt Kind nicht ins vornehme Wohnhaus lassen will ... Lane überlässt es dem Zuschauer, sich Gedanken zu machen, Zusammenhänge herzustellen. Er decouvriert die Ungleichheit auf subtile Weise. In seiner Hommage an Charlie Chaplin und Buster Keaton wünscht Lane sich, "dass die Leute lachen, dass sie aber auch die Obdachlosen mit anderen Augen sehen. Wir sind verantwortlich für unsere Brüder im Unglück". Sein Film ist ein Plädoyer für Verantwortungsbewusstsein und gegen Gedankenlosigkeit gerichtet. Die Slapstick-Szenen beweisen Humor, lassen aber auch Ernsthaftes zu. Auch die Dramaturgie des Stummfilms erfüllt ihre Funktion: Als die Obdachlosen neben der Straße im Freien kampieren, wird wieder die Sprache eingesetzt. Denn dann ist das Märchen zu Ende und die Realität fängt wieder an ...

"Sidewalk Stories" ist eine Rarität im derzeitigen Film-Business, ein Film für die Familie, der anregt, im Anschluss an die Vorführung sich zusammenzusetzen und so richtig miteinander zu reden, ein Film, der Phantasie spielen lässt.

Margret Köhler

 

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