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Ausgabe 39-3/1989

DER BÄR

L'OURS

Produktion: Renn Production, Frankreich 1988 – Regie: Jean-Jacques Annaud – Drehbuch: Gérard Brach, nach dem gleichnamigen Buch von James-Oliver Curwood – Kamera: Philippe Rousselot – Schnitt: Noelle Boisson – Musik: Philippe Sarde – Ton: Laurent Quaglio – Künstliche Tiere: Jim Henson's Creature Shop – Darsteller: Tchéky Karyo, Jack Wallace, André Lacombe – Laufzeit: 95 Min. – Farbe – FSK: ab 6, ffr. – Verleih: Neue Constantin (35mm)

Aus einer Felsspalte versuchen ein Bärenjunges und seine Mutter, den verlockend süßen Honig herauszuschlecken. Aber zufällig löst sich ein riesiger Steinbrocken und erschlägt das Muttertier. Unerwartet wird der kleine Bär ein Waise und gezwungen, seine Mutter aufzugeben. Instinktiv sucht er in der Wildnis nach einem neuen Beschützer und findet bald einen großen Kodiak, der ihn zunächst ablehnt, jedoch freundlicher aufnimmt, nachdem ihm der Kleine seine Wunden geleckt hat. Die Verletzungen entstammen den Gewehrläufen zweier Jäger, die sich hinterlistig durch die kostbaren Felle der Tiere bereichern möchten. Von Hunden gehetzt, gerät das Jungtier in die Gefangenschaft der Jäger.

Um nach mehreren Fehlversuchen den mächtigen Kodiak endgültig zu töten, bricht der jüngere Jäger siegessicher auf. Doch überraschend kehrt sich das Verhältnis von Jäger und Gejagtem um. Am Rande eines Abgrunds werden Mensch und Tier auf dem filmischen Höhepunkt miteinander konfrontiert. Dem Bären gelingt es, in die Offensive zu kommen. Ein Prankenschlag würde genügen, um seinen "natürlichen" Feind nach den Gesetzen der Notwehr und Rache zu vernichten. Doch, als ob plötzlich Einsicht und Gnade im Spiel wären, verschont er sein menschliches Gegenüber. Generös lässt er von seinem hilflos ums Leben flehenden Schlächter ab. Abgewandelt wiederholt sich der dramatische Konflikt. Der Gerettete drückt den Gewehrlauf seines Weggefährten in dem Augenblick weg, da dieser den Kodiak endlich ins Visier bekommt. Der uralte Krieg zwischen Mensch und Tier wird stillgelegt. Die Gegner, beide Geschöpfe der Natur, lernen sich gegenseitig zu respektieren und friedlich am Leben zu lassen.

Jean-Jacques Annaud ("Am Anfang war das Feuer", 1983, "Der Name der Rose", 1986) beweist mit seinem Film "Der Bär" erneut seinen ausgeprägten Sinn für das Archaische und Animalische. In einer unwegsamen und "unberührten" Naturlandschaft (Dolomiten), deren Charakter und Stimmung in einprägsamen Bildern eingefangen wird, ereignet sich keine nur putzige Bärengeschichte, sondern offenbart sich, psychologisch mit Raffinement gemacht und präzise nach den Regeln Hollywoods der 30er-Jahre gedreht, ein spannendes Tierdrama. Bereits mit der ersten Einstellung zwingt die Kamera den Zuschauer, die innere und äußere Perspektive des kleinen Bären einzunehmen, um sich mit den tierhaften Vorstellungen, Empfindungen und Träumen zu identifizieren.

Im Gegensatz zu Walt Disney, der seine Tierwelt stets ganz dem Anthropomorphismus unterwarf, schlägt Annaud eine gegenläufige Richtung ein. Er versucht, die teils andersartigen-fremden, teils verwandten-vertrauten Eigenschaften der Tiere darzustellen. Das erscheint sympathisch, gelingt aber nur zum Teil, weil die Geschichte vom Bären als einem kleinen, naiven und unverdorbenen Wilden dem anthropomorphisierenden Schema nicht ausreichend entkommt. Fremdes Tierschicksal und vermenschlichte Tierkindheit (geglückte Wunschkindheit) vermischen sich.

Einhundertneun Tage dauerten die aufwändigen Dreharbeiten. Der Film entstand nach einem exakten Storyboard mit 1.700 Einstellungen. Die Bären mussten mehrfach gedoubelt werden. Jim Henson, der Schöpfer der "Muppets", entwarf eigens Bärenpuppen, die als "special effects" nicht erkennbar sind. Vom Cinematographischen her betrachtet ist reizvoll, dass der Film fast ohne Dialoge und Off-Stimmen auskommt. Die unterlegte Musik verbindet sich harmonisch mit der Weite der Landschaft, wurde von einem großen Orchester symphonisch gespielt und Motiven von Tschaikowski entlehnt.

In der Reihe von Tierfilmen ist Annauds Geschichte über gejagte Bären weder objektivierende Dokumentation noch verharmlosender Kinderfilm. Aufgrund einer spannenden Fabel gelingt ein sehenswerter Tierfilm für Kinder und Erwachsene, recht ungewöhnlich und lehrreich, fast märchenhaft und naiv, dessen Bilder unbedingt auf die große Kinoleinwand gehören und dessen Sentenzen in der Tradition eines La Fontaines, der die Lektionen der Ökologie gelernt hat, stehen. Bezeichnenderweise reagierte die französische Kritik positiver als die deutsche.

Helmut Kommer

 

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