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Ausgabe 43-3/1990

WARUM?

PROC?

Produktion: Barrandov Filmstudio Prag, CSSR 1987 – Regie: Karel Smyczek – Drehbuch: Radek John, Karel Smyczek – Kamera: Jaroslav Brabec – Schnitt: Jan Svoboda – Ton: Vojtech Vorácek – Musik: Michal Pavlicek – Darsteller: Martin Dejdar, Jiri Langmajer, Martin Sobotka, Jan Potmesil u. a. – Laufzeit: 83 Min. -Farbe – FSK: ab 16, ffr. – Vertrieb und Verleih: Matthias-Film (16mm)

Ein Zug fährt durch die Nacht. Mit ihm fahren Hunderte von jugendlichen Fans des Fußballclubs Sparta Prag von einem Auswärtsspiel ihres Vereins zurück nach Hause. Sie sind erregt, erhitzt, übermütig. Bier und härtere Getränke heizen die Stimmung an. Starke Sprüche werden abgelassen. Aber dabei bleibt es nicht. Ältere Fahrgäste werden belästigt, eine Schaffnerin wird handgreiflich bedroht. Schließlich kommt es mit einem nicht mehr kontrollierbaren gruppendynamischen Automatismus zu einer Eskalation der Gewalt, und als der Zug in Prag einläuft, bietet er ein Bild der Verwüstung: Herausgerissene Abteiltüren, zerrissene Polster, zerschlagene Fensterscheiben, zerstörte Lampen, zerhackte Toiletten. Auf dem Bahnsteig wartet ein starkes Aufgebot von Polizei, das den Zug umstellt, und aus dem wilden Haufen der herausstürmenden Jugendlichen werden wahllos dreizehn Mädchen und Jungen gegriffen, in Polizeiautos gezerrt und ins Präsidium transportiert. Dem großen Rest gelingt in dem chaotischen Durcheinander die wilde Flucht ins Dunkel der Nacht.

Schon der Titel des tschechoslowakischen Spielfilms signalisiert, dass es seinem Regisseur nicht darum ging, einen spannenden Actionfilm im semikriminellen Milieu von Halbstarken zu inszenieren. Karel Smyczeks Absicht zielt weiter: Er forscht nach den Ursachen des Vandalismus, analysiert die Motive der Hooligans und setzt sich mit der öffentlichen Meinung auseinander, stellt den Managern der Fußballclubs und den staatlichen Organen die Frage nach der Verantwortung für den in die Hunderttausende gehenden materiellen Schaden. Mit akribischer Detailgenauigkeit und mit einer im Wortsinn zupackenden Kamera beschreiben Smyczek und sein Team auf mehreren ineinander verschränkten Ebenen den Tatablauf selbst, die Reaktionen, die privaten Lebensumstände der dreizehn Jugendlichen, die langwierigen Polizeiverhöre und schließlich die Gerichtsverhandlung gegen sie, die mit der Urteilsverkündung endet: Freiheitsstrafen von 18 Monaten bis zu 6 Jahren, je nach Schwere der als bewiesen erkannten Delikte ohne oder mit Bewährung.

Der Film greift ein Phänomen auf, dem Soziologen, Pädagogen, Staatsanwälte und Richter bisher ziemlich ratlos gegenüber stehen: Die Welle von kollektiver Gewalt in den Fußballstadien, von den Massenmedien begierig aufgegriffen und zusätzlich verstärkt. Nur allzu gut in Erinnerung sind die blutigen Auseinandersetzungen von Fußballfans in Brüssel und Liverpool, und die neuesten Ausschreitungen deutscher Fans bei der Fußballweltmeisterschaft in Italien zeigen in aller Deutlichkeit, dass es sich hierbei nicht um zeitlich und regional begrenzte Ereignisse handelt. Prophylaktische Konsequenzen wurden inzwischen gezogen, und die großen Fußballstadien gleichen heute eher streng bewachten Festungen als friedlichen Austragungsstätten fairer sportlicher Wettbewerbe. Die Symptome der Massengewalt wurden erkannt und werden bekämpft, aber die Ursachen dafür sind weiterhin im Dickicht hilfloser soziographischer Erklärungsversuche verborgen.

Hier leistet der Film von Karel Smyczek wichtige Recherchenarbeit, wobei er sich einseitiger Schuldzuweisung und allzu billiger sozialer oder moralischer Anklagerhetorik enthält. Der Film bietet somit eine Fülle von Diskussionsmaterial zu Fragen, von denen die wichtigsten hier genannt seien: Was treibt Jugendliche in Scharen und mit diffusen Feindbildern in den Köpfen in die Fußballstadien, wo sie sich, unter den jeweiligen Farben ihres Clubs, regelrechte Schlachten liefern und Walstätten der Zerstörung hinterlassen? Wie reagieren die Eltern dieser Jugendlichen auf die Gewaltlust ihrer Kinder? Ist der Gerechtigkeit Genüge getan, wenn mit einem Schauprozess ein "Exempel statuiert" wird und einige zufällig aufgegriffene Jugendliche als "Rädelsführer" abgeurteilt werden, während die weitaus größere Zahl der Mittäter und Mitläufer unbehelligt bleibt? Der Film versucht, auf diese Fragen keine Antworten zu geben, er beschränkt sich bewusst auf seine selbst gestellte Aufgabe des provozierenden Fragestellers. Aber die Antworten können und müssen in den Köpfen der Zuschauer entstehen, sie können und müssen in Gesprächen gesucht und gefunden werden, sie können und müssen in praktisches gesellschaftliches Handeln einmünden. Denn wenn auf diese und andere, ebenfalls beunruhigende Fragen, zum Beispiel zur ökologischen Konsolidierung der Erde, keine Antworten gefunden werden, so müssen sich die Menschen auf dieser Erde die alles entscheidende finale Frage nach ihrer Daseinsberechtigung auf ihr stellen.

Der Film gibt, wie gesagt, keine Antworten auf die vielen Fragen. Aber einen winzigen Schlüssel für den Eintritt in die Gedankenarbeit liefert er dennoch im Statement eines Wissenschaftlers: Jeder Mensch hat den Wunsch, die Einmaligkeit seines Daseins zu dokumentieren und davon eine für alle sichtbare Spur zu hinterlassen. Gelingt ihm dies nicht oder wird er daran gehindert, so sucht er nach Ersatzlösungen, die häufig Zerstörung, Verletzung oder gar Tod nach sich ziehen.

Auch wenn dies als apologetischer Einwurf missverstanden werden könnte, kann abschließend festgestellt werden: Dass gerade Jugendliche dieses Spurenziehen mit Enthusiasmus und Ungeduld betreiben und dabei häufig falschen "Helden"-bildern anheim fallen, davon legt der Film Zeugnis ab. Es sollte zu denken geben.

Bernt Lindner

 

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