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Ausgabe 56-3/1993

Eine Optimistin aus Prag

Die Kinderfilme der Drahomirá Kralová

Hintergrund

"Kinder sollten solange wie möglich Kinder bleiben dürfen. Dabei können Kinderfilme helfen."

Drahomirá Kralová wurde 1930 in der heutigen Tschechischen Republik geboren. In den 50er-Jahren, nach ihrer Schulzeit, begann sie mit dem Studium an der Prager Filmhochschule FAMU und trat 1960 als Assistentin in die berühmten Barrandov-Filmstudios/Prag ein. Hier lernte sie u. a. bei Ester Krumbachová und Marie Polednáková ("Schneemänner mit Herz"), bis sie Mitte der 60er-Jahre auf die renommierte Kinderfilmerin Vera Plivová-Simková traf, deren Arbeit auch ihre Filme prägen sollte. Für sie schrieb sie 1968 mit "Tony, du bist verrückt" ihr erstes Drehbuch. In den folgenden Jahren arbeitete sie nahezu ausschließlich mit Vera Plivová-Simková zusammen, mit der sie bis heute befreundet ist. Anfang der 80er-Jahre folgte dann mit "Tschiko", der "Zwinkerer/Mrkácek Ciko" ihre erste Ko-Regie mit Vera Plivová-Simková. Im Jahre 1982 realisierte sie im Alter von nunmehr 52 Jahren ihren ersten eigenen Kinderfilm, "Leise gewinnen" / "Vyhrávat potichu", bei dem die Einflüsse ihrer langjährigen Lehrerin und Freundin noch sehr deutlich erkennbar sind. Seither drehte Drahomirá Kralová drei weitere Kinder- und Jugendfilme, die jeder für sich mehrfach ausgezeichnet wurden und auch hierzulande zu sehen waren.

Kinderalltag in Stadt und Land:

LEISE GEWINNEN / VYHRAVAT POTICHU (1982)
Obwohl er kein besonders guter Spieler ist, liebt der achtjährige Ondra den Fußball über alles. Kein Wunder, ist doch sein Vater Torwart und guter Geist des dörflichen Fußballvereins und Ondras Bruder Honza einer der Talentiertesten in der Jugendmannschaft. Die beiden Jungen sind Mitglieder des Geheimbundes vom goldenen Ball, und als der Vater nach einem verlorenen Spiel von einem Zuschauer angespuckt wird, muss Ondra die anderen erst überzeugen, dass Rache angesagt ist. Doch der Vater nimmt die Sache viel gelassener und die zwei Brüder lernen so manches über den Stellenwert von Sport und Leben.

EIN KÖNIGREICH FÜR EINE GITARRE / KRALOVSTVI ZA KYTARU (1989)
Der 16-jährige Hynek wünscht sich nichts sehnlicher als eine Gitarre, damit er endlich wieder in einer Band spielen kann. Doch der Weg dahin ist weit, kostet doch ein solches Instrument 9000 Kronen, ein unerschwinglicher Preis für eine gewöhnlicher Prager Mittelstandsfamilie. Mit Hilfe seiner energischen und einfallsreichen kleinen Schwester macht er sich daran, auf die verschiedenste Weise das Geld zusammenzubekommen. Zwar bekommt er am Ende doch nicht die Gitarre, die er haben wollte, aber es gibt auch andere Wege zur Erfüllung seines Traums.

Eine Dorfkomödie in bester tschechischer Tradition, wenn auch mit den typischen Unsicherheiten des Debüts behaftet, und eine musikalische Teenie-Komödie, die in Gestalt der agilen Schwester auch ein Kinderpublikum anzusprechen vermag. Stellt der erste Film die Frage nach dem Stellenwert des Sports im Leben, so geht es im zweiten um die Musik und wie sie das Leben derer prägt, die sich ihr verschrieben haben. Denn bei ihren Versuchen, das benötigte Geld zu verdienen, machen Hynek und seine Schwester so manche Erfahrung mit dem harten Musikgeschäft und zugleich eine Reise durch ein Musikerleben.

"Wenn man die Filmschule verlässt, hat man das Gefühl, alles zu wissen. Aber nach dem dritten oder vierten Film merkt man, dass man immer noch kein Regisseur ist."

"Leise gewinnen" ist noch deutlich geprägt von den Einflüssen ihrer Lehrerin Plivová-Simková und ist in der Inszenierung nicht immer überzeugend. Dafür bietet der Film so manch überraschend gelungene Fußball-Szene und jede Menge Slapstick; vor allem bei den Kinderstreichen, die den Film gelegentlich wie eine tschechische Variante der schwedischen "Michel"-Filme wirken lassen. "Ein Königreich für eine Gitarre ist dagegen schon ein ausgereiftes Werk mit genauem Timing und einer fast überbordenden Detailfreude, das nicht selten an "Gregorys Girl" erinnert, mit dem es auch den liebevollen Blick auf die Bruder-Schwester-Beziehung teilt.

Beide Filme thematisieren die Suche von Kindern nach ihrem eigenen Weg ins Leben, manchmal mit und manchmal gegen die Erwachsenen. Bei aller Identifikation mit ihren Helden, wahrt Drahomirá Kralová doch auch immer die Distanz und zeigt auch die Schattenseiten bzw. Lächerlichkeiten, die sie sich leisten. So wird der "Geheimbund vom goldenen Ball" am Schluss von einer Horde wilder Mädels attackiert, die diese Art der Fußballverehrung schon immer nur komisch fanden. Oder wenn Hynek seine kleine Schwester im Stich lässt, wechselt der Film plötzlich die Erzählperspektive, und wir erleben den ganzen Schmerz der Kleinen und ihre Wut hautnah mit. Wir fühlen mit ihr und verfluchen diesen treulosen Gesellen, der nur an sich und seine Gitarre, aber nicht mehr an seine Schwester denkt. Das ist es, was Kralovás Filme ausmacht: Mitgefühl und eindeutige Parteinahme für die Kinder.

Sprichwörter und Zauberbücher:

MORGENSTUND' HAT GOLD IM MUND / KAM DOSKACE RANNI PTACE (1986)
Der Titelspruch ist so gar nichts für den zehnjährigen Pavel, hat er doch viel zu selten Lust, früh in die Schule zu gehen. Dafür klaut er lieber an Mutters Arbeitsplatz – einem Versuchslabor – ein Stück Zellgewebe, das dort für Versuche mit der Verdoppelung lebender Materie benutzt wird. Bei zwei Gewittern entstehen daraus erst Pavel II und dann noch Pavel III, die dem ursprünglichen Pavel schwer zusetzen.

HEXEN AUS DER VORSTADT / CARODEJKY Z PREDMESTI (1990)
Die beiden kleinen Heldinnen leben in einer grauen Hochhaussiedlung. Einziger Farbtupfer ist das Hexenhäuschen der zwei Tanten: Ein wahres Biotop in einer lebensfeindlichen Welt. Doch nun soll es verschwinden. Da finden die beiden Mädchen ein zerfleddertes Zauberbuch, und mit seiner Hilfe richten sie nicht nur jede Menge Chaos an, sondern retten auch das Biotop und bestrafen die geldgierigen Fieslinge.

"Mir liegen Geschichten, die mit Phantasie und Zauberei zu tun haben."
Ein Science-Fiction-Film und ein modernes Märchen. Filme, in denen Drahomirá Kralová ihren ganzen Einfallsreichtum und ihre Phantasie spielen lässt: verrückt, verspielt, überbordend. Dabei kommt sie auch ohne industrielle Effekte á la Hollywood aus, wenn es gilt, ihre Ideen zu visualisieren. Aus der Not eine Tugend machend, genügt ihr eben ein kleiner, schneller Schnitt, um etwa aus einem kleinen einen großen Fisch zu machen, und die Wirkung beim Publikum ist nicht minder groß, als hätte sie den Effekt mit dem neuen Computer-Morphing erzeugt – eher größer. Denn sie knüpft nahezu nahtlos an die Spielerfahrungen der Kinder an und erlaubt es ihnen, ihre eigene Phantasie mitspielen zu lassen. Und natürlich gönnt sie ihren kindlichen Helden den Sieg über die Größeren und Stärkeren: Sei es, dass die Profitgeier von den zwei Hexenmädchen in giftige Fliegenpilze verwandelt werden oder dass Pavel es den fiesen großen Jungs zeigt, die immer die Kleinen terrorisieren.

"Hexen aus der Vorstadt" beweist auch in besonderem Maße die Fähigkeit der Filmemacherin in der Führung ihrer kindlichen Darsteller; etwas, was sie mit ihrer Freundin Plivová-Simková verbindet. Die beiden Mädchen spielen so unbefangen und natürlich, als sei überhaupt keine Kamera vorhanden. Eine Leistung, die sich erst dann erschließt, wenn man weiß, dass die Kinder bei den Dreharbeiten gerade mal vier bzw. fünf Jahre alt waren. Auch in ihren anderen Filmen agieren die Kinderdarsteller stets unbefangen und spontan vor der Kamera, eine Leichtigkeit, die die Filme prägt und die sich auch aufs Publikum überträgt.

Wie in ihren Alltagskomödien geht es in ihren phantastischen Filmen immer um den eigenen Weg und die eigene Stärke, die die Kinder entdecken und entwickeln. Pavel erkennt in der Konfrontation mit seinen verschiedenen Doppelgängern, die jeweils unterschiedliche Seiten seines Wesens verkörpern, dass auch er stark, aber genauso strebsam und fleißig sein kann. Wichtig ist der Filmemacherin immer, den Kindern zu zeigen, dass Solidarität, Gerechtigkeit und Mitgefühl keine leeren Worte sind, sondern Werte, die es mit Inhalt zu füllen gilt, auch gegen die Erwachsenen, die zwar vor allem in der Schule immer davon reden, aber allzu selten danach handeln. Aber auch andere "große Themen" spielen unterschwellig eine Rolle. So lässt sich "Morgenstund'" selbstverständlich auch als Warnung vor den Gefahren moderner Technologien (GenTech) deuten und natürlich geht es in "Vorstadthexen" auch um das Elend von Trabantenstädten und um Stadtökologie. Aber all das wird eher nebenbei und ohne pädagogischen Zeigefinger erzählt.

Drahomirá Kralovás Filme sind – vor allem in der Rückschau – eine Chronik der Umbrüche in der CSSR: 1982 eine traditionelle Dorfkomödie; 1986 ein SF-Film, der vom Vordringen der High-Tech in Schule und Beruf erzählt; 1989 eine Teenie-Komödie über Konsumwünsche, die auch von jenen berichtet, die im deklarierten Sozialismus von den Errungenschaften des Westens profitierten und von der Allmacht des Geldes. Und last but not least eine Komödie für kleine Kinder, die ganz nebenbei eben jene Profiteure geißelt und sie zumindest im Film ihrer gerechten Strafe zuführt, derweil sie im wirklichen Leben wohl eher auf der Siegerseite stehen.

Ein optimistischer Ausblick:

"Hexen aus der Vorstadt" war der letzte staatlich finanzierte Kinderfilm in der CSFR. Zurzeit steht noch völlig in den Sternen, was aus der großen Tradition des tschechoslowakischen Kinderfilms werden soll. Denn nicht nur der gesellschaftliche Umbruch sorgte für ein abruptes Ende, auch die Teilung des Landes macht die Situation nicht klarer. Dennoch arbeitet Drahomirá Kralová schon wieder an einem neuen Projekt: eine Liebes- und Ökologiegeschichte. Zwar weiß sie noch nicht, ob und wie dieses Drehbuch je realisiert werden wird, aber wie in ihren Filmen ist sie auch im Leben eine unverbesserliche Optimistin. Bleibt zu hoffen, dass es ihr auch weiterhin – unter nunmehr veränderten Bedingungen – gelingt, unterhaltsame und anspruchsvolle Kinderfilme zu machen.

Lutz Gräfe

 

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