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Ausgabe 83-3/2000

"Tsatsiki"

TSATSIKI, MORSAN OCH POLISEN

(Hintergrund zum Film TSATSIKI – TINTENFISCH UND ERSTE KÜSSE)

Regie: Ella Lemhagen – Schweden / Norwegen / Dänemark 1999 – Länge: 91 Min. – Farbe

Auszug aus der Dokumentation der Filmvorführung (25.06.2000) beim 18. Kinderfilmfest München:

Reaktion der Kinder während der Filmvorführung

Die Kinder verfolgten die Vorführung von Anfang bis zum Ende mit großer Aufmerksamkeit. Sie waren völlig in die Geschichte des kleinen Tsatsikis vertieft, was an ihren Reaktionen erkennbar war:
- Ohh-Rufe bei ergreifenden Szenen (z. B. als Tsatsiki von dem größeren Jungen niedergeschlagen wird; als Tsatsiki auf der Party von dem Mädchen geküsst wird)
- viele Kinder hielten sich bei Entsetzen oder bei lustigen Szenen die Hand vor den Mund (z. B. als Tsatsiki den Vater des größeren Jungen sieht und merkt, dass es der alkoholabhängige Herumtreiber ist, dem er auf seinem Nachhauseweg von der Schule immer begegnet; als Tsatsiki mit seinem Freund Tanzübungen für die Party macht)
- bei Anspannung hielten die Kinder die Luft an (z. B. als Tsatsiki beim Tauchen fast ertrinkt)
- bei Szenen, die die Zuneigung zwischen Tsatsiki und dem Mädchen darstellen, kicherten die Kinder nervös (z. B. als das Mädchen Tsatsiki nach der Schlägerei nach Hause begleitet)

All diese Reaktionen zeigen, wie vertieft die Kinder in die Geschichte waren. Sie bemerkten vielleicht teilweise gar nicht mehr, dass sie im Kino saßen, sie zeigten ihr Mitgefühl offen durch Handlungen und Ausrufe. Wenn kleinere Kinder der Handlung manchmal nicht ganz folgen konnten oder eine lustige Szene nicht verstanden, fragten diese bei ihren Begleitpersonen sofort nach. Ich beobachtete z. B. ein kleines Mädchen, das des Öfteren seine Mutter am Arm schüttelte, weil diese lachte und fragte: "Warum lachst du? Sag! Warum lachst du denn?" Das Mädchen fand die Szene selbst nicht lustig, doch da ihre Mutter lachte und viele andere im Raum auch, wollte sie den Grund erfahren. Das Mädchen wollte dabei sein, wollte mit den anderen Zuschauern mitlachen. Da der Film viele humorvolle Szenen enthält, lachten die Kinder oft.

Durch die gelockerte Atmosphäre wippten und klatschten die Kinder mit der Musik mit, die in einigen Szenen eingespielt wurde (z. B. als Tsatsiki und Göran Motorrad fahren). Während des Films lehnten sich viele Kinder weit nach vorne, es schien, als wollten sie so nah wie nur irgendwie möglich an die Leinwand rücken. Als der Film zu Ende war, gaben fast alle Kinder begeistert Beifall.

Verwendbarkeit des Films für die Kinderkulturarbeit

Der neue Film der schwedischen Regisseurin Ella Lemhagen zeigt Wärme, Zartheit und vor allem großes Verständnis für die Gefühle eines kleinen Jungen. Der Film ist von Humor, aber auch von Melancholie und Sehnsucht durchzogen. Der achtjährige Tsatsiki betrachtet aus seiner Sicht die Welt der Erwachsenen mit ihren Widersprüchen und Fehlern. Auch Erwachsene werden unsicher und fehlerhaft dargestellt. Die Zuschauer werden mit den Anforderungen, Problemen und Lebensweisen der Erwachsenen konfrontiert. Der Film greift damit kindliche Themen und Fragen im Alltag auf, und trägt so zu einem besseren Verständnis der Welt bei. Tsatsiki (das Kind) wird in dem Film als Persönlichkeit ernst genommen und seine Gefühlswelt wird berücksichtigt.

In dem Film spielt der Dialog zwischen den Generationen eine große Rolle. Tsatsiki hat zwar gleichaltrige Freunde, doch er freundet sich auch mit dem Erwachsenen Göran, dem Polizisten an. Außerdem muss er sich ständig mit seiner Mutter auseinander setzen, um am Ende dann doch sein Ziel zu erreichen, nämlich seinen Vater kennen zu lernen. Der Film macht Mut seinen Träumen und Wünschen nachzugehen. Der Film macht ebenfalls deutlich wie Konflikte entstehen und wie man sie lösen kann.

Es werden auch Tabuthemen wie Alkoholismus in der Familie behandelt, wenn auch nur als Nebengeschichte. Die kindlichen Zuschauer werden somit nicht vor Problemfällen verschont und die Welt wird realistisch dargestellt.

Der Film überzeugt durch seinen guten Darsteller (Samuel Haus) und durch die Glaubwürdigkeit der Filmfigur: Der Darsteller ist in seiner Rolle als Tsatsiki absolut überzeugend. Der Held ist nämlich nicht perfekt, er macht auch Fehler. Der Film ist bis zum Ende spannend, der Inhalt und die Handlung sind realistisch, denn er hat eine Geschichte zum Thema, die sich ereignet haben könnte. Dennoch ist anzumerken, dass das Ende des Films etwas märchenhaft erscheint – Vater und Sohn sind glücklich vereint, der Polizist zieht wieder in die Wohnung der Johanssons ein und der wunderschöne Sonnenuntergang am Ende des Films wirkt übertrieben kitschig.

In dem Film erfolgt eine Vermittlung von Werten wie Solidarität, Respekt, Toleranz und Zusammenhalt. Die dargestellte, fast schon zu perfekte Mutter-Sohn-Beziehung enthält alles davon. Normen und Werte werden transportiert, somit wird Orientierungshilfe geleistet und es werden Ratschläge vermittelt. Der Film gibt Alltagserfahrungen von Kindern wieder. Somit können diese eigene Probleme und Verhaltensmuster finden und erfahren eine Unterstützung in ihrer Identitätsbildung.

Die jeweilige Geschlechterrolle ist auch heute noch mit jeweils unterschiedlichen Verhaltenszuschreibungen versehen, die für beide Geschlechter verschiedene soziale Verhaltensmuster festlegt. Geschlechtsspezifische Vorurteile und stereotype Vorstellungen über das gesellschaftlich normierte Bild von Weiblichkeit bzw. Männlichkeit werden in dem Film gebrochen: Tsatsiki wird emotional dargestellt, er ist dem Mädchen auf der Party gegenüber sehr schüchtern und darf auch mal weinen und traurig sein, Göran ist in Tina verliebt und zeigt seine Trauer und Enttäuschung offen, als er keine Chance mehr sieht, sie für sich zu gewinnen; die Mutter wirkt dominant und legt bei der Verteidigung ihres Sohnes bei Bedarf auch mal aggressives Verhalten an den Tag, das Mädchen auf der Party wirkt forsch und selbstbewusst.

Mädchen finden in dem Film ein Vorbild, welches ihnen ermöglicht, ihre eigene Geschlechterrolle mit den entsprechenden Rollenzuschreibungen zu hinterfragen. Sie finden vielleicht Gefallen und Mut daran, neue Verhaltensweisen zu erproben, die sie sich vielleicht noch nie zugetraut haben. Jungen wird der Mut gegeben, auch Schwäche zeigen zu dürfen. Der Film trägt dazu bei, traditionelle Geschlechterklischees aufzubrechen. Es werden verschiedene Möglichkeiten des Rollenverhaltens und der damit verbundenen Handlungsweisen dargestellt, die Kinder erlernen und somit übernehmen können. Es wird eine Orientierungshilfe gegeben, die vielleicht noch unbekannten Rollen kennen zu lernen und auszuprobieren.

Der Film enthält Rollen, die Identifikationsmöglichkeiten bieten. Tsatsiki setzt sich aktiv mit seiner Umwelt und mit seinen Problemen auseinander, zeigt aber auch Schwäche (weint) und macht auch Fehler (überspielt das Demo-Band). Der Held Tsatsiki, der die Vorbildfunktion für die Kinder übernimmt, ist nicht perfekt und somit für die Kinder zu erreichen. Das Kind kann dabei lernen, eigene Schwächen zu akzeptieren und Fehler anderer Menschen zu verstehen. Die Ängste, Sehnsüchte und Wünsche des Hauptdarstellers sind vielen kindlichen Zuschauern vertraut, so dass sie darin eine realitätsnahe Identifikationsfigur finden. Viele Kinder müssen heutzutage einen Trennungsschmerz überwinden, denn alleinerziehende Mütter werden immer häufiger. Auch das Übergehen der Kinder bei den Entscheidungen Erwachsener oder das Vertrösten auf später sind häufige Erfahrungen im Leben eines Kindes. Tsatsiki kündigt seiner Mutter Widerstand an. Als Identifikationsfigur kann Tsatsiki den Kindern Mut und Zuversicht vermitteln.

Der Film wurde von den Kindern durch die Abstimmung mit der Eintrittskarte wie folgt beurteilt: 83 Prozent der Kinder stimmten für sehr gut, 12 Prozent für gut, 4 Prozent für mittelmäßig und nur 2 Prozent für nicht gefallen. Auch dieses Ergebnis steht für eine hervorragende Verwendbarkeit des Films in der Kinderfilmarbeit. – Altersempfehlung: ab 8 Jahre.

Jutta Baumann

 

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Ausgabe 82-3/2000

 

Filmbesprechungen

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Interviews

Kaminski, Albert Hanan - "Wenn du die Welt verändern willst, musst du bei den Kindern anfangen"| Kozik, Christa - "Kinder brauchen leise humanistische und poetische Botschaften"| Lemhagen, Ella - "Ich möchte nicht in eine Schublade gesteckt werden"| Reich, Uschi - "Welcher Name garantiert heute schon Erfolg?"| Vávrová, Dana - Kinder sind die wahren Helden|

Filme in der Diskussion

"Drei Brüder"|


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