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Ausgabe 82-2/2000

KATJA UND DER FALKE

FALKENJERTE

Produktion: Angel Arena, Crone Film (Dänemark), Neue Impuls Film, Pandora Film, ZDF (Deutschland), Motlys Film A/S (Norwegen), Produzioni Corsare, Mikado, RAI (Italien); 1999 – Regie: Lars Hesselholdt – Drehbuch: Lars Hesselholdt, Tine Rud Mogensen, Pascal Lonhay – Kamera: Marco Pontecorvo – Schnitt: Molly Malene Steensgaard – Musik: Gabriele Ducros – Darsteller: Fanny Bernth (Katja), Alessandro Haber (Don Fanucci), Loris Tocci (Francesco), Raimondo Guida (Paolo), Simone la Vecchia (Mauro), Mirko Casaburo (Carlo), Stefan Jürgens (Lastwagenfahrer), Lina Sastri (Mamma) u. a. – Länge: 81 Min. – FSK: ab 6 – Farbe – Verleih: Arthaus – Altersempfehlung: ab 8 J.

Angesichts knapper Produktionsmittel und eines von Disney und Co. beherrschten Absatzmarktes werden europäische Kinder- und Jugendfilme immer häufiger als internationale Koproduktion gestartet. Der Befürchtung, die kulturelle Identität der einzelnen europäischen Länder könnte sich damit auflösen, weiß der dänische Kinder- und Jugendfilmregisseur Lars Hesselholdt offensichtlich ein Rezept entgegen zu halten, das sich schon bei seinem Film "Belma" bewährt hat: Man macht die unterschiedlichen kulturellen Eigenarten und Wurzeln selbst zum Thema des Films. Auch in "Katja und der Falke" (auf deutschen Festivals zunächst unter dem weniger treffenden Titel "Katjas Abenteuer" gelaufen) begegnen sich zwei verschiedene Kulturen, in diesem Fall die dänische und die mediterrane aus Süditalien. Die interkulturelle Geschichte ist dabei noch mit der beliebten Zutat "Tierfreundschaft" gewürzt und setzt auf die Faszinationskraft eines Falken, von der seinerzeit schon Regisseure wie Ken Loach ("Kes") oder Arend Agthe ("Der Sommer des Falken") profitierten.

Katja ist ein neunjähriges Einzelkind, für das die beruflich ausgelasteten Eltern wenig Zeit haben. Unter ihren Schulkameraden gilt sie als Außenseiterin, zumal sie sich ausschließlich für ihr Hobby interessiert, Vögel in freier Natur zu beobachten. Eines Tages rettet sie bei einem heftigen Unwetter unter Lebensgefahr einen jungen Falken, den sie "Kiik" nennt. Erschöpft verkriecht sie sich mit dem Vogel unter der Plane eines abgestellten LKWs und schläft ein. Als sie wieder aufwacht und vom LWK herunterkommt, ist sie in einer fremden, südländisch wirkenden Stadt am Meer, in der die Menschen eine Sprache sprechen, die sie nicht versteht. Als ihr auch noch Kiik davonhüpft, fühlt sie sich mutterseelenallein und mutlos. Doch dann lernt sie vier Brüder verschiedenen Alters kennen, die sie bei sich aufnehmen und ihr später auch helfen, Kiik zurückzukaufen, der bei einem Vogelhändler gelandet ist. Das Problem dabei ist allerdings, dass zunächst niemand von ihnen Geld hat, ein böswilliger Tierpräparator den Falken ebenfalls erwerben möchte, eine verfeindete Jugendbande den Kindern das Leben schwer macht und Katja schließlich mit Kiik auch wieder in ihre Heimat zurückkehren möchte. Doch mit viel Fantasie finden die fünf Kinder eine Lösung und lernen sich dabei kennen und schätzen, auch ohne die Sprache des anderen zu verstehen.

Die klar strukturierte und ansprechend umgesetzte Geschichte ist weder alltäglich noch nach gängigem Schema erzählt, obwohl auch sie eine Reihe von dramaturgischen Schwachstellen und Ungereimtheiten aufweist. So ist es beispielsweise sehr unwahrscheinlich, dass Katja in Dänemark auf der Ladefläche eines Lasters einschläft und erst nach weit über 2000 Kilometern Fahrstrecke wieder aufwacht, als sie bereits in Süditalien angekommen ist. Und auch das Verhalten der italienischen Mamma der vier Brüder, die es offensichtlich kaum interessiert, dass Katja ganz allein unterwegs ist, mutet zumindest befremdlich an. Überhaupt werden Rollenklischees aus den beiden Ländern, in denen die Handlung angesiedelt ist, reichlich bemüht: die kühle distanzierte Blonde aus dem hohen Norden, die mitunter kleinkriminellen Aktivitäten vieler "putziger" Kinder aus dem Mezzogiorno, die wahre (Über-)Lebenskünstler sind, die kinderliebe, natürlich Pasta kochende italienische Mamma, der autoritäre, lieblose Vater in einer anderen Familie, die Sinnenfreudigkeit und das Temperament der Süditaliener und vieles mehr. Andererseits spielt der Film auch mit diesen ohnehin in vielen Hinterköpfen vorhandenen Klischees, setzt sie ganz bewusst ein, um sie da zu belassen, wo sie kulturell verankert oder einfach soziale Realität sind und dort zu relativieren, wo sie sich durch persönliche Begegnungen und mit dem Verständnis der konkreten Lebensumstände – also durch eigene Erfahrungen und die Aufhebung der Anonymität – verändern lassen.

Die Kinderjurys im süditalienischen Giffoni nahmen bei ihrer eindeutigen Preisvergabe für "Katja und der Falke" an diesem Umgang mit Klischeevorstellungen jedenfalls genauso wenig Anstoß wie die in Amsterdam oder bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck. Und auch die erwähnten dramaturgischen Unstimmigkeiten fallen angesichts des schlüssigen Gesamtkonzepts und der überzeugenden Darstellerleistungen der Kinder, die zueinander halten und über die kulturellen Unterschiede hinweg Solidarität gegenüber der wirklich "fremden" Welt mancher Erwachsenen entwickeln, nicht zu stark ins Gewicht. Vor allem zerstören sie die bezaubernde Atmosphäre des Films nicht, der die langsame Annäherung zwischen Katja und ihren süditalienischen Freunden, das gegenseitige Herantasten an die fremde Kultur und die nicht gesprochene und daher auch nicht verständliche Sprache des anderen mit nur wenigen Worten, aber umso intensiveren Gesten und Blicken vermittelt, der Neugier statt Langeweile schafft, Raum für Beobachtungen und eigene Gedanken lässt.

Hier wird eine klare pädagogische Absicht einmal nicht mit Kindern in den Mund gelegten, meistens schlechten Dialogen zerredet und als Appell an Toleranz und Völkerverständigung exemplarisch bebildert, sondern ganz unmittelbar emphatisch nacherleb- und fühlbar gemacht. Und weil Jungen und Mädchen hier – selten genug – wirklich gleichberechtigte Hauptrollen spielen und eine große Bandbreite an gleichwertigen Temperamenten und Eigenarten verkörpern und am Ende sich natürlich alles zum Positiven wendet, insbesondere für Katja und ihren Falken, kann der Film auch ein breites Publikum ansprechen und begeistern.

Holger Twele

 

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