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Ausgabe 96-4/2003

LILYA 4-EVER

Produktion: Memfis Film AB, Schweden 2002 – Regie und Buch: Lukas Moodysson – Kamera: Ulf Brantas – Schnitt: Michal Leszcylowski – Musik: Nathan Larson – Darsteller: Oksana Akinshina (Lilya), Artiom Bogucharskij (Volodja), Elina Benenson, Lilia Sinkarjova, Pavel Ponomarjov u. a. – Länge: 109 Min. – Farbe — FSK: offen – Verleih: Arsenal (35mm) – Altersempfehlung: ab 16 J.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gerieten viele Russen in tiefe Armut, neokapitalistische Praktiken beherrschten große Teile des Wirtschafts- und Alltagslebens und viele Menschen konnten nur noch von einer besseren Zukunft bzw. einem Neuanfang träumen – überall dort, wo sie gerade nicht waren, insbesondere im Westen, sei es nun Europa oder die USA. Vor diesem realen sozialen Hintergrund spielt Lukas Moodyssons neuer Film, der 1999 mit seinem bemerkenswerten Erstlingswerk "Raus am Åmål" über die Existenznöte und das Coming out zweier "lesbischer" Schülerinnen großen Erfolg beim Publikum hatte, nicht nur in seinem Heimatland Schweden.

Die 16-jährige Lilya wohnt in einem trostlosen Vorort irgendwo in Russland. In der Schule verkündet sie selbstbewusst, sie werde bald mit ihrer Mutter und deren neuen Freund in die USA reisen. Doch als die Abreise naht, ist für sie kein Platz in der neuen Beziehung, zumal die Mutter ihr vorhält, sie wäre als Ergebnis einer Zufallsbekanntschaft ohnehin nicht erwünscht gewesen. Eine Tante, die sich wenigstens um sie kümmern soll, bringt sie in einer billigen Absteige unter und reißt sich die bessere Wohnung von Lilya selbst unter den Nagel. Da sich auch das Sozialamt nicht zuständig fühlt, weiß das Mädchen bald nicht mehr, woher sie das Geld zum Essen nehmen soll. Von einer Schulkameradin bekommt sie den Tipp, es ebenfalls einmal mit "Liebesdiensten" zu versuchen, wird von dieser zur Rettung der eigenen Ehre aber denunziert und von der Nachbarschaft öffentlich als billige Prostituierte abgestempelt. Lilyas einziger Freund ist der 13-jährige Volodja, für den sie ältere Schwester und zaghaft und unschuldig Geliebte zugleich ist.

Eines Tages lernt sie in einer Disco einen sympathisch wirkenden jungen Mann kennen, der sich ernsthaft für sie zu interessieren scheint und ihr große Versprechungen für eine gemeinsame Zukunft in Schweden macht. Trotz Volodjas Warnungen, die sie als Eifersucht abtut, ist sie bereit, ohne ihren neuen Freund nach Schweden auszureisen, der angeblich noch dringende Geschäfte zu erledigen hat. Der zurückgelassene Volodja verliert durch Lilyas Weggang seinen einzigen Halt und begeht Selbstmord. Aber auch für Lilya verschwindet der vermeintliche Lichtstreif am Horizont abrupt. Sie hatte sich die Freiheit im Westen ganz anders vorgestellt, als in einem Tag und Nacht von außen verschlossenen Zimmer auf neue Freier zu warten. Jegliche Ausbruchsversuche, der professionell organisierten Zuhältergang zu entkommen, scheinen zum Scheitern verurteilt.

Moodysson setzt das schmutzige, brutale und gefühllose Geschäft mit der "Ware" Mensch, besonders mit jungen Frauen aus dem Osten, so unspekulativ wie sensibel und zugleich schonungslos in Szene. Über die brüchige Gefühlswelt seiner beiden kleinen Helden und mit ausdrucksstarken Bildern zwischen krassem Sozialrealismus und leiser Poesie verdeutlicht er, warum gerade junge Menschen unter bestimmten Voraussetzungen eine leichte Beute für solche Menschenhändler werden und wie sie auf eine Welt reagieren (müssen), in der menschliche Wärme und Zuneigung sowie allgemeine zwischenmenschliche Werte nichts (mehr) zählen. Trotz zahlreicher Schicksalsschläge der beiden Protagonisten belässt der Regisseur sein Publikum lange im Glauben, es werde so schlimm wohl nicht kommen und die beiden Jugendlichen könnten es wohl schaffen und ihre missliche Lage überwinden. Doch das gelingt ihnen nur in ihren Träumen, selbst die Illusion des Kinos wäre angesichts hunderter solcher realen Schicksale dazu nicht in der Lage.

Auf dem Filmfest Stuttgart-Ludwigsburg wurde Oksana Akinshina für ihre überzeugende und erschütternde Darstellung der Lilya ausgezeichnet.

Holger Twele

 

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Ausgabe 96-4/2003

 

Filmbesprechungen

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