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Ausgabe 96-4/2003

Das Fernsehen darf nicht der beste Freund der Kinder werden

Interview mit Bundesfamilienministerin Renate Schmidt

Interview

Noch nie haben Kinder so viel Zeit vor Bildschirmgeräten verbracht wie heute. Eltern sorgen sich vor allem über den hohen Grat an Gewaltdarstellungen. Andererseits wissen sie oftmals gar nicht, womit sich ihre Kinder beispielsweise bei Computerspielen die Zeit vertreiben. Gemeinsam mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat die Zeitschrift "Hörzu" daher die Aktion "Schau hin!" ins Leben gerufen. Sie soll mit Hilfe von Anzeigen, TV-Spots, Informationen und einem Medienspiel gerade die Eltern von drei- bis elfjährigen Kindern dazu ermuntern, sich bewusster mit dem Medienkonsum ihres Nachwuchses auseinander setzen.

KJK-Mitarbeiter Tilmann P. Gangloff unterhielt sich mit Ministerin Renate Schmidt über die Ziele der Kampagne und die Gefahren des Medienkonsums für Kinder und Gesellschaft.

KJK: Frau Schmidt, welche Ziele verfolgt Ihre Aktion?
Renate Schmidt: "Wir wollen mit der Kampagne 'Schau hin!' vor allem die Erziehungsverantwortung der Eltern stärken. Wir wollen, dass sie darauf achten, was ihre Kinder fernsehen und mit welchen anderen elektronischen Medien sie sich beschäftigen. Kinder und Eltern sollen lernen, verantwortungsvoll mit diesen Medien umzugehen."

Für viele Eltern heißt Medienerziehung ja vor allem Fernsehverbot.
"Dabei bringt es gar nichts, Kinder durch Verbote von etwas abhalten zu wollen! Außerdem gibt es ja viele vernünftige Angebote. Wir wollen die Eltern befähigen, ihre Kinder zu beraten und aufmerksam hinzuschauen, was die Kinder sehen und wie lange sie etwas sehen. Vor allem sollen kleine Kinder nicht unbeaufsichtigt vor dem Fernseher sitzen. Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn Kinder in einem vertretbaren Zeitraum beispielsweise den Kinderkanal 'Kika' schauen. Es wird aber dann schädlich, wenn es sich um mehrere Stunden handelt und wenn der Fernseher zum besten Freund der Kinder wird."

Kinder und Jugendliche bevorzugen die Programme von Privatsendern wie RTL oder Super RTL. Ausgerechnet die sind aber im "Schau Hin"-Kuratorium nicht vertreten.
"Wir starten die Aktion ja gerade erst. Ich gehe davon aus, dass die Zahl der Kooperationspartner noch größer wird. Am 'Runden Tisch' des Bundeskanzlers gegen Gewalt in den Medien sitzen auch die Privatsender, die ein hohes Interesse haben, sich zu beteiligen. Das gilt überhaupt für die Anbieter aller elektronischen Medien, also auch Video, DVD, Computerspiele etc."

Wie wird die Aktion ablaufen?
"Erst mal schalten wir Anzeigen und Fernseh-Spots, um die Eltern auf die Aktion aufmerksam zu machen. Dann geben wir in großen Zeitschriften Erziehungstipps. Gemeinsam mit der TU Berlin haben wir außerdem das 'Medien-Domino' entwickelt, ein Spiel, das wir an den Schulen verteilen lassen."

Am aufgeschlossensten für Aktionen dieser Art sind in der Regel Eltern, die sich ohnehin um den Medienkonsum ihrer Kinder kümmern. Wie wollen Sie die anderen erreichen?
"Das ist in der Tat eine Herausforderung. Spätestens an dieser Stelle kommen die privaten Fernsehsender ins Spiel. Wir wollen sie dazu bewegen, sich des Themas 'Erzieherische Verantwortung' anzunehmen und in der Hauptsendezeit entsprechende Spots und kurze Filme zu zeigen."

Schulprojekte setzen ja die Kooperationsbereitschaft der Lehrer voraus, die sich in Fragen der Medienkompetenz aber oft genauso überfordert fühlen wie Eltern. Müsste Medienerziehung nicht viel stärker schon Teil ihrer Ausbildung sein?
"Natürlich! Aber für diese Frage ist mein Ministerium nicht zuständig. Lehrerausbildung ist eine Sache der Länder. Davon abgesehen haben Sie uneingeschränkt Recht: Wir brauchen viel mehr Medienkompetenz bei Lehrerinnen und Lehrern. Es ist unbedingt notwendig, dass Kinder nicht nur im Elternhaus, sondern auch in der Schule zu einem vernünftigen Umgang mit den Medien erzogen werden."

Ist angesichts des enormen medialen Angebots nicht auch ein Schulfach Medienerziehung überfällig?
"Ich glaube nicht, dass ein eigenes Fach nötig ist. Die Erziehung zu einem vernünftigen Medienkonsum, der alles umfasst, was Medien betrifft, muss sich quer durch alle Fächer ziehen."

Wie sieht's mit Kindergärten aus? Erzieherinnen betrachten sie ja gern als medialen Schonraum, weil sie der Meinung sind, die Kinder würden ohnehin schon zuviel Zeit mit Medien verbringen.
"Der Umgang mit den Medien, nicht nur mit dem Fernsehen, beginnt ja schon im frühesten Alter. Ich halte überhaupt nichts davon, wenn Dreijährige vor dem Fernseher sitzen, weil sie in dem Alter noch gar nicht zwischen Realität und Fiktion unterscheiden können. Aber sie können schon sehr nützliche Dinge am Computer lernen, auch im Kindergarten. Mein Ministerium hat zum Beispiel gemeinsam mit Microsoft das Microsoft-Projekt 'Schlaumäuse' unterstützt, das zur Zeit in hundert Kindergärten erprobt wird. Kinder können mit Hilfe dieses Spiels zusätzliche Sprachkompetenz erwerben. "

Ein Schwerpunkt der Aktion gilt den Darstellungen von Gewalt. So mancher Ihrer Politikerkollegen stempelt die Medien gern zum Sündenbock, weil das viel einfacher ist als die komplexen Ursachen für jugendliche Aggressivität herauszuarbeiten.
"Natürlich hat Aggression unter Jugendlichen viele Ursachen. Die Medien haben aber einen großen Anteil, weil sie Gewalt oft verharmlosen. Wenn man von klein auf dauernd sieht, wie im Fernsehen gestorben wird, wenn also etwas eigentlich Fürchterliches alltäglich wird, kann auch die Hemmschwelle sinken, selbst gewalttätig zu werden. Ich würde aber niemals behaupten, die Medien trügen die Alleinschuld. Die Botschaft sollte sein: Man muss Rücksicht aufeinander nehmen. Da ist es natürlich ganz wichtig, dass die Kinder zuhause entsprechende Vorbilder haben und von ihren Eltern gewaltfrei erzogen werden. Aber um ehrlich zu sein: Das können wir nicht auch noch in diese Kampagne packen."

Oftmals verbringen Kinder und Jugendliche nicht zuletzt deshalb so viel Zeit mit Fernsehen und Computer, weil es keine Freizeitangebote gibt oder weil sie viel zu teuer sind. Wäre es nicht wichtiger, beispielsweise für genügend Jugendzentren zu sorgen?
"Das eine schließt das andere ja nicht aus. Auch diese Frage sprengt jedoch die Kompetenz meines Ministeriums, das ist Aufgabe von Ländern und Kommunen. Aber Sie haben völlig Recht: Kinder brauchen Räumlichkeiten, in denen sie sich gefahrlos aufhalten können. An solchen Räumen fehlt es vor allem in Großstädten. Kinder und Jugendliche sollten aber auch lernen, dass nicht jede Freizeitbeschäftigung gleich mit viel Geld verbunden sein muss. Eine Alternative sind zum Beispiel Ausflüge oder Spiele mit den Eltern. Das ist den Kindern erfahrungsgemäß ungleich wichtiger als jede Fernsehsendung."

Viele Kinder nutzen Computer und Internet-Spiele auch als Mittel, um sich von den Eltern abzugrenzen. Schränkt Ihre Aktion diesen Freiraum nicht ein?
"Die Eltern sollen um Himmels Willen nicht anfangen, ihre Kinder ständig zu kontrollieren. Aber sie sollen sich interessieren, zum Beispiel, indem sie sich auch mal was beibringen lassen. Kinder fühlen sich doch ganz toll, wenn sie ihren Eltern etwas erklären können! Auf diese Weise nimmt man ihnen ganz sicher keinen Freiraum."

Viel Fernsehgewalt wird gerade dann gezeigt, wenn die meisten Kinder zuschauen, nämlich zwischen 18 und 21 Uhr. Was kann man dagegen unternehmen? Man kann die Sendungen ja schlecht verbieten.
"Das neue Jugendmedienrecht ermöglicht es durchaus, mit Verboten zu arbeiten. Vieles von dem, was da zu sehen ist, hat in dieser Sendezeit absolut nichts auf dem Bildschirm verloren. Aber es gibt auch eine große Grauzone. Schon allein aus diesem Grund brauchen wir auch weiterhin den 'Runden Tisch', damit auch den Programmmachern aller Sender klar wird, dass es sich dabei nicht um Kavaliersdelikte handelt."

Es gibt Stimmen, die sagen, wir Eltern sind mit der ziemlich grausamen Gewalt in den Märchen aufgewachsen; das hat uns auch nicht geschadet. Worin sehen Sie den Unterschied zur Bildschirmgewalt?
"In den bewegten Bildern! Man sieht die Gewalt! Das hat gleich eine ganz andere Qualität. Ein Märchen wird erzählt oder vorgelesen. Den Kindern ist daher völlig klar, dass es sich um eine erfundene Geschichte handelt. Im Fernsehen aber werden Bilder gezeigt, die natürlich einen viel höheren Grad an Realität vermitteln."

Welche langfristigen Auswirkungen befürchten Sie, wenn sich am Ausmaß der Bildschirmgewalt nichts ändert?
"Wenn Gewalt zu einer alltäglichen Art der Konfliktlösung wird, kann das allen schaden; auch Partnerschaften und Familien können daran zerbrechen. Das Recht des Stärkeren aber darf es in einer demokratischen Gesellschaft niemals geben."

Interview: Tilmann P. Gangloff

 

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