Produktion: Les Films Du Fleuve; Belgien / Frankreich 2005 – Regie und Buch: Jean-Pierre & Luc Dardenne – Kamera: Alain Marcoen – Schnitt: Marie-Hélène Dozo – Darsteller: Jérémie Renier (Bruno), Déborah Francois (Sonia), Jérémie Segard (Steve), Fabrizio Rongione (junger Dieb), Oliver Gourmet (Zivilpolizist) – Länge: 100 Min. – Farbe – FSK: ab 12 – Verleih: Kinowelt – Altersempfehlung: ab 16 J.
Sonia, 18, kommt mit ihrem neugeborenen Sohn auf dem Arm aus der Klinik. Bruno, 20, ist nicht da. Die Sozialwohnung hat er in ihrer Abwesenheit weitervermietet. Sie kann's nicht fassen, sucht Bruno überall und findet ihn auf der Straße. Er ist nervös, hängt am Handy, bereitet einen Raub vor, schaut kaum auf Klein-Jimmy, hetzt weiter, Sonia mit dem Kind hinterher. Nur langsam finden sie zueinander, Sonia ist dabei die liebende und treibende Kraft. Die erste Nacht muss die kleine Familie getrennt im Obdachlosenheim verbringen, weil Bruno die Wohnung erst für den nächsten Tag klarmachen konnte. Überhaupt ist er ständig dabei, irgendetwas klarzumachen, Deals und Coups. Vom Arbeiten hält er gar nichts. Er klaut vorzugsweise teure Elektronik und verkauft sie an eine Hehlerin, die ganz nebenbei nach dem Kind fragt und Bruno erklärt, dass ein zur Adoption freigegebenes Baby fünftausend Euro bringt. Ein verlockendes Angebot. Er macht den Deal, kommt mit leerem Kinderwagen zurück und erklärt Sonia seelenruhig, dass er Jimmy verkauft hat und sie ja ein neues Kind machen können. Sie fällt zu Boden, rührt sich nicht. Bruno gerät in Panik, bringt sie auf dem Arm ins Krankenhaus. Erst jetzt merkt er, dass etwas schief gelaufen ist, weiß, dass er Jimmy zurückholen muss. Das tut er auch. Sonia hat ihn unterdessen bei der Polizei angezeigt und mit ihm gebrochen.
Er kann's nicht glauben, wo doch alles wieder in Ordnung ist, Jimmy da und er auch, reumütig, um Verzeihung bittend, Besserung gelobend und Liebe gestehend. Sie schimpft ihn einen Lügner und lässt sich nicht umstimmen, erst recht nicht, als er um ihr Handy bettelt. Bruno gerät immer mehr unter Druck, muss nicht nur das Geld zurückgeben, sondern auch noch für das entgangene Geschäft zahlen. Kein Big Deal steht an, sondern die kleine miese Tour. Handtaschenraub mit einem minderjährigen Helfer. Das geht schief. Das eiskalte Wasser steht ihnen bis zum Hals, der Kleine wird gefasst, Bruno kann sich verstecken. Dann aber stellt er sich der Polizei, um den Jungen zu entlasten. Die letzte Szene des Films ist von berührender Intensität. Sonia trifft Bruno in der Cafeteria des Gefängnisses, verzweifelt blicken sie einander an. Ihr rinnen die Tränen übers Gesicht, er bricht schluchzend zusammen und klammert sich an Sonia wie ein Ertrinkender.
Die belgischen Filmemacher Jean-Pierre und Luc Dardenne (Regie und Drehbuch) erzählen unsentimental und mit dokumentarischer Genauigkeit die Geschichte, die von außen betrachtet unfassbar erscheint: Ein junger Vater verkauft seinen neun Tage alten Sohn und kann sich gar nicht vorstellen, dass seine Freundin etwas dagegen haben könnte, auf diese Weise schnell an viel Geld zu kommen. Bruno ist zwar ein mit allen schmutzigen Wassern der Straße gewaschener Kleinkrimineller, aber er ist kein Monster. Es fehlt ihm lediglich ein wichtiger Baustein: Er ist verantwortungs- und beziehungslos. Bezeichnend ist die Szene, in der Bruno Klein-Jimmy zur Übergabe in einem leeren Raum ablegt, ein zärtlicher Moment, der aber folgenlos bleibt. Mit dem Empfang des Geldes ist für Bruno das Kapitel Kind abgeschlossen. Seine Beziehung zu Sonia ist auch nicht so wichtig für ihn. Wichtiger ist das Handy, das seine Außenbeziehungen steuert. Geld ist die Triebfeder seines Lebens, nicht Liebe. Und dass es etwas anderes geben könnte, für das es sich lohnte zu leben, ahnt Bruno erstmals, als er Sonias Schmerz sieht.
Überhaupt Sonia: Das Kind gibt ihr Halt, daraus bezieht sie ihre Stärke. Jimmy braucht sie, sie braucht Jimmy – nicht Bruno. Ihre konsequente Haltung rettet sie vor dem Abgrund, in den Bruno sie mitreißen würde. Sie lässt ihn fallen und dadurch hat er vielleicht erstmals im Leben eine Chance, Verantwortungsbewusstsein und Mitgefühl zu entwickeln. Die Schlussszene ist trotz der Traurigkeit der jungen Eltern nicht ohne Hoffnung. Man wünscht Sonia, Bruno und Jimmy eine gemeinsame Zukunft.
"Das Kind", in Cannes 2005 mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, klagt niemanden an, verurteilt nicht, sondern erzählt mit anhaltender Spannung von zwei jungen Leuten, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens geboren wurden. Es ist ein bewegendes Plädoyer für Mitmenschlichkeit und Verstehen von Heranwachsenden, die nicht wissen, wie das Leben geht, nicht wissen, was Familie sein kann – nämlich auch ein Ort von Schutz und Geborgenheit -, weil sie es selbst nicht erfahren haben.
Gudrun Lukasz-Aden
Inhalt der Print-Ausgabe 104-4/2005
Filmbesprechungen
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