Produktion: Egoli Tossell Film AG / WDR / cine plus / Kopp Media; Deutschland 2004 – Regie: Sabine Michel – Buch: Thomas Wendrich – Kamera: Jürgen Jürges – Schnitt: Anja Neraal – Musik: Frieder Zimmermann – Darsteller: Sebastian Urzendowsky (Milan), Agnieszka Grochowska (Ilonka), Peter Kurth (Gunter Neusorge), Udo Kroschwald (Manfred Beutel), Marie Gruber (Marlies Beutel), Eva Maria Hagen (Anne Schoppe), Juliane Köhler (Städterin), Max Tidof (Städter), Wolfgang Michael (Dr. Keitel), Grzegorz Malecki (Krystoph) u. a. – Länge: 95 Min. – Farbe – FSK: ab ? – FBW: wertvoll – Verleih: timebandits – Altersempfehlung: ab 14 J.
Die Gegend an der deutsch-polnischen Grenze ist unwirtlich, das Dorf Dunkelhäuser, umgeben von Wald, See und Feldern, wirkt einsam und verlassen. Es scheint ein Ort ohne Zukunft zu sein und doch leben hier Menschen, allerdings ein recht merkwürdiger Haufen, verstrickt in verdrängten Geschehnissen der Vergangenheit. Alle haben sich in diesem abgeschlossenen Mikrokosmos eingerichtet, zusammengehalten werden die Weltfremden vor allem vom ausgiebigen Konsum an Kartoffelschnaps. Für den regelmäßigen Nachschub an Hochprozentigem sorgt der zwanzigjährige Milan, der sich als Hasenjäger und Schnapsbrenner verdingt. Er wächst ohne seine Mutter bei seinem abgestumpft-brutalen Vater auf. Seine Großmutter steckt voller Gemeinheiten und sein einziger Vertrauter ist der verschrobene Doktor Keitel, der in seinem Labor die Herzen der Menschen erforschen will.
Von einem Tag auf den anderen ändert sich alles im Dorf: Der liebeskranke Pole Krystoph taucht auf und im Wald erfährt Milan vom Fremden das erste Mal etwas über die Kraft der Liebe, aber auch von der Verzweiflung, wenn man nicht mehr geliebt wird. Die Dörfler reagieren mit kollektiver Ablehnung auf den Fremden, der sich vor Liebeskummer in einer Scheune das Leben nimmt. Die Leiche schaffen sie zur Klärung der Todesursache zum Doktor Keitel, Milan verschweigen sie den Tod des Polen, doch er darf den Anzug des Toten tragen. Die Polin Ilonka ist auf der Suche nach ihrem Freund Krystoph und erkennt sofort, dass Milan seinen Anzug trägt, doch die Bauern schweigen beharrlich. Gemeinsam mit Ilonka muss Milan nicht nur das eisige Schweigen um den verschwundenen Polen brechen, sondern auch das Geheimnis seiner Herkunft lüften und sich von seinem tyrannischen Vater befreien.
Heimatfilm, Coming-of-Age-Geschichte und Tragikomödie zugleich ist der vielschichtige Debütfilm von Sabine Michel, in dem es mal subtil, mal derb, fein ironisch und auch mal grob sarkastisch zugeht: Da gibt es eine Leiche, die gar keine ist; eine Kuh, die per Flaschenzug in die Höhe gehoben wird, um das Gras auf dem Dach zu fressen; aus eingefrorenem Kuhmist formt Milan ein zu Bruch gegangenes Jesuskreuz; im Sektionskeller von Doktor Keitel schlägt selbst noch das Herz eines Toten. Hinter all diesen Typen und ihren Marotten stecken Themen wie Fremdenhass, der bei Mann und Frau unterschiedlich ausfällt, oder Alkoholismus, denn nur so ist die Tristesse und das Verdrängen der Schuld am Tode von Milans Mutter zu ertragen. Und da es eine Geschichte aus dem Osten Deutschlands ist, handelt der Film nicht nur von der Ödnis, die zurückbleibt, wenn die Jungen ihre Heimat verlassen (müssen), sondern stellt auch noch habgierige Städter, die alles aufkaufen wollen, in einen Käfig und macht ihnen Feuer unter dem Hintern: Hier schießt der ansonsten so sympathische Film leider über sein Ziel hinaus, zumal eigenartigerweise die Gaststars Juliane Köhler und Max Tidof als schlitzohrige Spekulanten höchst unglaubwürdig agieren.
Der überbordenden Skurrilität, die an die renommierte Tradition tschechischer Filmklassiker von Jirà Menzel, des frühen Milos Forman und nicht zuletzt Vera Chytilová anzuknüpfen scheint, sind keine Grenzen gesetzt: Es beginnt theatralisch bis tragisch und kippt dann in immer absurdere und komische Gefilde, trotzdem gibt es immer wieder auch berührende Momente, wenn es um Fragen der persönlichen Identität, der Orientierung und die Rückkehr der Liebe geht. Die jungen Schauspieler Sebastian Urzendowsky und Agnieszka Grochowska wirken im Zusammenspiel mit gestandenen Stars wie Eva-Maria Hagen und Marie Gruber durchweg glaubhaft und überzeugend. Milan entdeckt die Liebe für sich und sein Abschied mit Ilonka nach Polen wird zum wahren Ausbruch für die Dunkelhäuser Dickschädel, denen die Liebe abhanden gekommen war.
Manfred Hobsch
Inhalt der Print-Ausgabe 104-4/2005
Filmbesprechungen
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