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Ausgabe 107-3/2006

"Marcel ist antiautoritär aus sich heraus"

Gespräch mit Juliane Schuhler über ihre Langzeitdokumentation "Marcel"

(Interview zum Film MARCEL)

KJK: Der erste Marcel-Film war eine Reportage über eine erste Klasse zu Zeiten der antiautoritären Erziehung. Was war der Auftrag damals?
Juliane Schuhler: "Der Film lief in der Reihe 'Die Welt der Kinder'. Unser Anspruch war es, mit unserem Film fortschrittliche Pädagogik zu vermitteln. Es war erschütternd, wie wenig in dieser Grundschule angekommen war von den Ideen der antiautoritären Erziehung."

Marcel steht im Mittelpunkt, ein unangepasster Junge mit hohem Potenzial, war er vorher "ausgeguckt" worden?
"Wir waren drei Wochen in der Klasse, drehten im Unterricht. Und schon bald war klar, dass es auf Marcel zuläuft. Er war antiautoritär aus sich heraus, ein Außenseiter, neben dem keiner sitzen wollte, mit einem tiefen Gerechtigkeitssinn, immer rebellisch, machte Theater, 'eine Gaudi', wie seine Mutter es nannte."

Wie ist Marcels familiärer Hintergrund?
"Die Mutter, berufstätig, zwei Kinder von verschiedenen Männern, von der Doppelrolle sichtbar überfordert, war trotzdem eine wahnsinnige Kämpferin. Und die Tatsache, dass sie beide Kinder in der Waldorfschule untergebracht hatte, war doch interessant. Marcel ist nach einem halben Jahr wegen Disziplinschwierigkeiten von dort geflogen, während seine Schwester bis zum Abitur dort geblieben ist."

War von Anfang an eine Langzeitbeobachtung mit der Kamera konzipiert?
"Nein, aber ich dachte schon: Es ist interessant, was aus dem mal wird. Wir hielten Kontakt zu ihm."

War der BR auch an einer Fortsetzung interessiert?
"Ja. Der zweite Film entstand sieben Jahre später, da war Marcel im Internat Elkofen. Das hatte die Mutter durchgekämpft. Er ist von der Grundschule gut aufs Gymnasium gekommen, dann aber nach der Probezeit geflogen. Er kam nicht zurecht, wohl in erster Linie mit der Ordnung, aber auch mit der Leistung. Zuhause hatte er keine Unterstützung."

Der zweite Film handelt ja von den Schwierigkeiten, ein braver Schüler zu sein. Hat Marcel es geschafft?
"Dieser Film mit Ausschnitten aus dem ersten zeigt schwerpunktmäßig Marcels Situation im Internat. Er hat sich auch mit dem Thema Einsamkeit auseinander gesetzt." Ein Gemütszustand, an den sich Marcel bis heute noch gut erinnert: 'Als ich im Internat war, habe ich mir den ersten Film noch einmal angeschaut, und da hat er mir geholfen. Ich war auf der Suche nach der Identität und in einer Krisensituation. Ich sah natürlich nicht nur den Film, sondern bekam auch Assoziationen und damit eine Erweiterung meiner Persönlichkeit.'
Das sagte Marcel anlässlich der Filmpremiere in München, eine Aussage, die auch für Filmemacherin Juliane Schuhler neu war.

Waren Sie inspiriert von den "Kindern von Golzow", ein Dokumentarfilmprojekt, das Winfried & Barbara Junge und Hans Eberhard Leupold 1960 in der DDR starteten?
"Als ich mit Marcel zu drehen begann, kannte ich diese Filme noch nicht, später natürlich. Aber das ist eine ganz andere Kategorie, die haben von Anfang an auf 35mm gedreht ..."

Der dritte Marcel-Film kam 1992, eine lange – beabsichtigte – Pause?
"In der Phase nach Elkofen hatten wir uns eine Weile aus den Augen verloren. Erst nach seinem Sozialpädagogik-Studium in Trier und Frankfurt begann der nächste Hauptdreh."

Da geht es um die Frage nach der Anpassung. Hat Marcel sich angepasst?
"Er ist kein Typ, der sich anpasst, der kriecht niemandem in den Hintern. Wenn ihm etwas nicht passt, sagt er seine Meinung, gerade gegenüber Autoritäten."

Wie war die Zusammenarbeit über all die Jahre mit dem Bayerischen Rundfunk?
"Die Redaktion Dokumentarfilm stand immer dahinter."

Wie war das Verhältnis der Filmemacherin zum Protagonisten Marcel?
"Wir hatten ein gutes, später ein kollegiales Verhältnis. Er hat mir öfters Kärtchen oder Briefchen geschickt, mich auf dem Laufenden gehalten. Spannend war es, als er seine erste Stelle in einem geschlossenen Mädchenheim antrat. Damals hatten wir einfach Material gesammelt. Wir wollten eher mit einem Film herauskommen, aber es kam vorher nichts zusammen. Meine Recherchenarbeit jetzt für den neuen Film war, dass ich zum Beispiel von allen Heim-Mädchen die Erlaubnis einholte. Marcel hatte eine gute Beziehung zu den Mädchen, hauptsächlich hat er sich immer mit seinen Vorgesetzten und Kollegen gestritten."

Wie lange war die Schnittphase für den letzten Film, in dem die drei anderen mit eingearbeitet sind?
"Sechs Wochen. Ich wusste ungefähr, was ich nehme und was ich weglasse."

Beim Klassentreffen hat niemand Marcel erkannt – eine erstaunliche Szene.
"Er ist seinem Milieu entwachsen. Das war eine große Motivation für ihn. Er wollte sich bilden, lernen, etwas darstellen."

Das ist ihm gelungen, ist damit das Marcel-Projekt beendet?
"Wir hatten die Idee: Wenn Marcels Tochter eingeschult wird, ist Schluss. Damit hat sich der Kreis geschlossen ..."

Interview: Gudrun Lukasz-Aden

 

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