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Ausgabe 107-3/2006

DER HALS DER GIRAFFE

LE COU DE LA GIRAFE

Produktion: Telema; Frankreich / Belgien 2004 – Regie: Safy Nebbou – Buch: Safy Nebbou, Danièle Thompson – Kamera: Romain Winding – Schnitt: Bernard Sasia – Musik: Pascal Gaigne – Darsteller: Louisa Pili (Mathilde), Sandrine Bonnaire (Hélène), Claude Rich (Paul), Darry Cowl (Léo), Monique Mélinand (Madeleine) u. a. – Länge: 84 Min. – Farbe – Verleih: Schwarz/Weiß Filmverleih – FSK: ab 6 – Altersempfehlung: ab 10 J.

Mathilde, ein waches und kluges neunjähriges Mädchen, spricht während der Fahrt zum Altersheim die Route in ihr Aufnahmegerät. Mutter Hélène, geschieden und alleinerziehend, ist davon genervt, wie überhaupt von dem bevorstehenden Besuch zum Geburtstag ihres Vaters Paul. Doch Mathilde mit ihrer natürlichen Herzlichkeit und Liebe zum Großvater löst die Verkrampfung im Altersheim. Es wird eine schöne Feier. Nachts schleicht sich Mathilde aus der Wohnung und jetzt wird klar, warum sie sich den Weg akustisch notiert hat. Sie will den Großvater mitnehmen auf eine Reise in die Vergangenheit, hin zur Großmutter Madeleine, die nicht gestorben ist, wie ihr von der Mutter immer vermittelt wurde. Mathilde hat den Beweis dafür gefunden: ein Stapel Briefe, die der Großvater nicht geöffnet hat. Mathilde hat auch nur einen gelesen, und zwar den, der anlässlich ihrer Geburt an sie gerichtet war.

Dem überraschten Paul wird klar, dass er seinem kleinen "Engel" diesen Wunsch nicht abschlagen kann. Gemeinsam machen sie sich noch in derselben Nacht auf den Weg nach Biarritz, dem Ort am Atlantik, wo sich vor dreißig Jahren das Schicksal der Familie entschieden hat. Damals konnte Paul seiner Frau Madeleine nicht verzeihen, dass sie mit seinem besten Freund durchgebrannt war. Seitdem kümmerte er sich liebevoll um seine Tochter Hélène, die in jener Zeit so alt war wie Mathilde jetzt. Als Hélène am Morgen das Verschwinden ihrer Tochter bemerkt, findet sie in Mathildes geheimem Versteck unterm Bett die Briefe ihrer Mutter. Tief erschüttert macht sie sich auf den Weg ins Altersheim und bekommt dort einen entscheidenden Hinweis. Sie stoppt die Suchaktion der Polizei und fährt Richtung Südwest. Währenddessen führt Mathilde den Großvater immer dichter an die Wahrheit und der ahnt, dass er einen großen Fehler gemacht hat. Nachdem Großvater, Tochter und Enkelin in Biarritz aufeinander getroffen sind, setzt Hélène die Reise mit Mathilde fort – sie braucht Zeit, um ihrem Vater zu verzeihen.

Der spanische Regisseur und Drehbuchautor Safy Nebbou mit deutschen und algerischen Vorfahren erzählt in seinem Spielfilmdebüt mit großer Einfühlsamkeit von verletztem Stolz. Es hätte alles anders verlaufen können, wenn Paul mit seiner Tochter Hélène nicht ständig umgezogen wäre, um die Spuren zu verwischen. Madeleine hatte zwanzig Jahre lang vergeblich versucht, zur Familie zurückzukehren, doch Paul ließ das Andenken an die untreue Mutter sterben. Und Hélène hatte es irgendwann aufgegeben, nach ihrer Mutter zu fragen. Der Einfachheit halber erklärte sie dann ihrer Tochter Mathilde, dass die Großmutter gestorben ist. "Lügnerin" schreibt Mathilde mit dem Finger an die beschlagene Fensterscheibe, als sie die Briefe der Großmutter entdeckt.

"Der Hals der Giraffe" ist ein Film über die Liebe und über die Lüge, die aus Liebe geschieht, mit bis in alle Nebenrollen überzeugenden und glaubwürdigen Darstellern, allen voran Louisa Pili als Mathilde, die genauso ist, wie sich der Regisseur das vorgestellt hatte: "Wir suchten ein Mädchen von neun Jahren, das die ganze Unschuld eines Kindes seines Alters trägt, aber das gleichzeitig eine fast unglaubliche Reife besitzt, die beunruhigt und irritiert." Das Kind zwingt mit seiner unbedingten Suche nach der Wahrheit die Erwachsenen zur Auseinandersetzung mit ihrer Familiengeschichte. Das letzte Bild von poetischer Aussagekraft zeigt drei Generationen in einem spanischen Bergdorf, in der Mitte die in anderen Sphären lebende Großmutter, von Tochter und Enkelin behutsam an die Hand genommen.

Der rätselhafte Titel des Films wird ganz nebenbei erklärt: Paul und Madeleine nannten einst ihre Buchhandlung "Der Hals der Giraffe", da Pauls Vater das Lesen immer so überflüssig hielt wie den langen Hals einer Giraffe. Jetzt hört Paul, als er mit seiner Enkelin den vertrauten Laden betritt, von den neuen Besitzern eine ganz andere Erklärung für den ungewöhnlichen Namen. Demnach soll Salvador Dali den Laden besucht und aus einer Laune heraus diesen surrealistischen Titel kreiert haben – eine amüsante kleine Lüge, über die Paul nur lächeln kann ...

Familiäre Lebenslügen, die zum vermeintlichen Schutz der Kinder erfunden werden, sind immer wieder Thema von Kinder- und Jugendfilmen: In "Lieber Frankie" präsentiert die Mutter ihrem Sohn lieber einen Fremden als den leiblichen Vater; in "Good Bye Lenin" will die Mutter nur das Beste für ihre Kinder und verleugnet den Vater. Auch da ist ein Stapel Briefe das Indiz für die Existenz und die Liebe des Vaters zu seiner Familie. Schon Erich Kästner thematisierte in seinem "Doppelten Lottchen" die Skrupellosigkeit von Eltern, die ihre Kinder lieber zu Halbwaisen machen, als mit der Wahrheit herauszurücken. Diese Filme zeigen aber auch, dass es die Kinder sind, die die Unaufrichtigkeit der Erwachsenen spüren, sie nicht hinnehmen und keine Angst vor einer – manchmal schmerzhaften – Wahrheit haben. "Der Hals der Giraffe" reiht sich ein in die Filme, die Kindern wie Erwachsenen Wichtiges zu sagen haben.

Gudrun Lukasz-Aden / Christel Strobel

 

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Ausgabe 107-3/2006

 

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Interviews

Gagnon, Claude - "In meinen Filmen spiele ich mit sozialen Vorurteilen und falschen Bildern"| Götz, Maya - Erst mal die Jungs rausschmeißen| Schuhler, Juliane - "Marcel ist antiautoritär aus sich heraus"| Wild, Anne - Den Kindern ihr Märchen geben|


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