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Ausgabe 61-1/1995

MOVIE DAYS

BIODAGAR

Produktion: The Icelandic Film CorporationReykjavik, Zentropa Entertainments Kopenhagen, Peter Rommel Filmproduktion Hamburg/Berlin, Island / Dänemark / Deutschland 1994 – Regie: Fridrik Thór Fridriksson – Buch: Fridrik Thór Fridriksson, Einar Mar Gudmundsson – Kamera: Ari Kristinsson – Schnitt: Steingrimur Karlsson – Musik: Hilmar Örn Hilmarsson – Darsteller: Örvar Jens Arnarsson (Thomas), Orri Helgason (Nicholas), Rúrik Haraldsson (Vater), Sigrún Hjalmtysdóttir (Mutter), Oto Sander (Geist) u. a. – Länge: 90 Min. – Farbe – Verleih: Nil-Film (35mm) – Altersempfehlung: ab 10 J.

Reykjavik Anfang der 60er-Jahre: In die isländische Hauptstadt zieht der faszinierende "American Way of Life" ein, Straßenkreuzer rollen an blank geputzten VW-Käfern durch erleuchtete Straßen, Lichtreklamen locken. Das Kino ist der Anziehungspunkt für große und kleine Menschen. "Der König der Könige" steht auf dem Programm, ein Kostümfilm über das Leben und Sterben Jesus'. Thomas, zehn Jahre alt, frisch gescheitelt, im feinen kleinen Anzug, wird an der Hand seines ziemlich alten Vaters, eines respektierlichen Zollbeamten, durch den Einlass geschleust. "Ist der Kleine nicht zu jung dafür?" "Nein", entgegnet der Vater, "ich bin ja bei ihm". Mit seinem Hut, den er Thomas von Zeit zu Zeit vors Gesicht hält, blendet er grausame Szenen aus – eine fürsorgliche Art von Filmzensur. Ansonsten gibt es keine Zensur für die Kinder. In der Arbeitersiedlung am Rande der Stadt ist ein Mikrokosmos jener Zeit des Umbruchs inszeniert: Da wohnt der Kommunist, der auf Kapitalisten und das Fernsehen schimpft, ebenso wie der reich gewordene Schmuggler, der die Kinder nicht nur seinen Wagen polieren lässt, sondern sie auch einspannt für seine Geschäfte. Hier lebt die Armee-Hure, die es mit den in der Nähe stationierten amerikanischen Soldaten treibt, in enger Nachbarschaft von redlichen Familien, die stumm einem Radio-Hörspiel lauschen. Die große Attraktion ist das Haus Nr. 32, wo ein Fernseher im gardinenlosen Parterre flimmert. Die Kinder drücken sich von außen an der Scheibe die Nasen platt, schauen voller Vergnügen rabiate Kriegsfilmszenen an. Nur die Nachricht, dass im Haus Nr. 36 gevögelt wird, löst einen sofortigen Programmwechsel aus. Im Rhythmus des Geschehens singen sie fröhlich ein zotiges Kinderlied.

Das Leben ist prall, die Zeiten sind spannend, Coca Cola verdrängt die Milch, Schokoriegel das Vollkornbrot in der Schulpause, es gibt Popcorn und Kaugummi, Köstlichkeiten, die die Kinder begehren und die Erwachsenen – vergeblich – abwehren. Thomas ist Teil dieses Großstadtlebens, das so viele Action-Szenen bietet, grad wie das Kino. Er beobachtet, wie drei russische Spione den Kommunisten überreden, den nahe gelegenen Nato-Stützpunkt mit einer im Kugelschreiber versteckten Kamera zu fotografieren. Einfach toll! Doch das glaubt nun wirklich keiner mehr. "Du gehst zuviel ins Kino" ist der Kommentar.

Auch aus diesem Grund ist entschieden worden, dass Thomas in den Sommerferien nach Nordisland geschickt wird, in das Bauernhaus des Onkels. Dem Vater liegt sehr am Herzen, dass sein jüngster Sohn die Gegend, die er selbst am meisten liebt, kennen lernt. Er hofft, dass sich von dem natürlichen Zauber etwas in die Seele des Großstadtkindes senkt. Die Reise geht im Lastwagen übers Land, das weit ist und in vielen Farben schimmert, mit einem verhangenen, tief liegenden Himmel, bleiernen Meer, Inseln, Felsen, Wasserfällen, hin zu Menschen, die karg sind wie die Landschaft. Und ebenso echt und ehrlich. Es braucht eine Zeit, bis Thomas das spürt. Der alte Toni erzählt dem Kind vorm Einschlafen wahre Schauergeschichten von Trollen und Geistern, die es leicht mit den Kinohandlungen aufnehmen können. Langsam aber nachhaltig wird der Junge eingefangen von der spröden Verzauberung, die von der Natur und den Menschen ausgeht. Thomas ist zufrieden, ausgeglichen und glücklich. Bis die Nachricht vom Tode des Vaters die Ferien jäh abbricht. Der Film endet, wie er begann: im Kino. Diesmal ist "Die kriechende Hand" auf der Leinwand zu sehen, ein billiger Horrorfilm, dem Thomas mit weit aufgerissenen Augen folgt – niemand hält mehr schützend den Hut vor sein Gesicht ...

Der isländische Regisseur Fridrik Thór Fridriksson, der auch das Drehbuch mit verfasste, inszenierte mit seinen "Movie Days" autobiografische Fragmente. Der heute 39-Jährige ist in den 60er-Jahren herangewachsen. Und das mag für ihn genauso gewesen sein wie für Thomas im Film. Fridriksson gelingt es, das Gefühl von damals, den Geruch, den Geschmack, das Ambiente herzustellen und mit Leben zu erfüllen, ebenso die Liebe zum Kino, die er als Kind entdeckt hat, die Faszination des Verbotenen, die Frühreife, Vorwitzigkeit, aber auch die Naivität und Spontaneität, die Kinder schützt. Der Farbfilm transportiert diese Zeit mit der Filmästhetik von damals.

Ein Kind sagte spontan nach der Vorführung: "Der Film wirkt genauso alt wie die Autos, die da herumfahren." Wobei anzumerken ist, dass dem Kind die alten Autos gefallen haben. Mir auch ...

Gudrun Lukasz-Aden

 

 

Der Film "Movie Days" erhielt bei den Nordischen Filmtagen Lübeck 1994 den Preis der Baltischen Jury mit der Begründung: "Der Film erzählt eine anrührende Geschichte. Er erzählt von der enormen Kraft kindlicher Phantasie, und es gelingt ihm, dafür eine kongeniale Bildsprache zu finden. Mit seiner ruhigen und einfühlsamen Fotografie gibt der Film uns die Zeit und den Raum, an eine Zeit zurückzudenken, in der das Kino eine andere Rolle spielte als heute. Wir haben von ganzem Herzen gelacht und geweint."

 

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Ausgabe 61-1/1995

 

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