(Interview zum Film DER MANN AUF DEM QUAI)
Pecks inzwischen mehrfach preisgekrönter Film ist ein herausragendes Beispiel für eine bestimmte Kategorie von Filmen, in deren Mittelpunkt zwar Kinder stehen, die aber nicht unbedingt als Kinderfilme im herkömmlichen Sinn anzusehen sind. Ungewöhnlich ist "Der Mann auf dem Quai" außerdem dadurch, dass er am Beispiel eines achtjährigen Mädchens in Haiti die Auswirkungen einer Militärdiktatur auf die kindliche Erlebniswelt zeigt.
KJK: Der Film wurde ja hauptsächlich mit Geldern aus Frankreich und Kanada finanziert, beteiligt war aber auch eine Redaktion des ZDF-Kinderfernsehens. War denn der Film als Kinderfilm konzipiert?
Raoul Peck: "Was heißt konzipiert? Das Drehbuch existierte schon, bevor ich davon erfuhr, dass es diese Redaktion gibt. Ich bin der Meinung, man soll aufhören zu sagen, es gibt Kinderfilme und Erwachsenenfilme. Gut, ich kann verstehen, wenn man unter Kinderfilmen Filme für drei- bis sechsjährige Kinder versteht, dass man dann versucht, auf sie didaktisch zuzugehen. Aber in dem Moment, wo das Kind anfängt, selbst nachzudenken und Fragen zu stellen und Zugang zu Informationen und zur Aktualität hat, denke ich, kann man ihm eine Menge zutrauen. Es ist ein Kinderfilm insofern, als die Hauptdarstellerin oder die Hauptfigur ein Mädchen ist. Der Film ist komplett aus ihrer Sicht gesehen. Das sind ihre Ängste, ihre Zeugenaussagen sozusagen. Es gibt keine Szene, wo sie nicht selbst drin ist oder selber nachdenkt. Aber man sollte versuchen, thematisch nicht so ranzugehen und zu sagen, ich mache einen Kinderfilm, denn das ist eine Falle, im Grunde genommen."
Ist der Film denn nach Deiner Ansicht für Kinder geeignet?
"Ich denke schon. Er ist zwar hart, es geht um Gewalt, aber es geht auch um Kindheitserinnerungen. Für Kinder zwischen zehn und dreizehn Jahren, würde ich schätzen. Sie werden natürlich Fragen stellen, sehr viele sogar. Es wäre gut, wenn Erwachsene dabei sind, die den Film auch gesehen haben und auf diese Fragen antworten können. So wie die Geschichte konstruiert ist, könnte es sein, dass sie nicht so klar wird für ein Kind. Aber die Momente sind wichtig, es sind Momente der Angst, die ein Kind sehr gut verstehen kann. Ich habe das mit der Hauptdarstellerin auch erlebt. Ich habe ihr nichts verschwiegen, ich habe ihr erklärt, was vor sich ging. Sie wusste, was in Haiti geschehen ist, sie hat verstanden, was der Sarah passiert ist. Das ging soweit, dass sie mir am Ende der Dreharbeiten gesagt hat, sie ist traurig, sie weiß, dass sie nie sein wird wie Sarah. Für sie ist Sarah fast wie eine Heldin. Das heißt, sie hat die Figur ganz tief verstanden."
Kommt die junge Hauptdarstellerin aus Haiti?
"Nein, sie ist aus Guadeloupe und lebt in Paris."
Ist der Film vor einer größeren Gruppe von Kindern gezeigt worden?
"Er wurde auf Festivals gezeigt, wo Kinder- und Jugendfilme laufen. Ich weiß auch, dass Schulen in Frankreich oft mit dem Film gearbeitet haben. In Martinique und Guadeloupe läuft jetzt eine Aktion, wo Lehrer Programme vorbereiten, um den Film mit Kindern anzuschauen. Seltsamerweise sind im vergangenen und in diesem Jahr viele Filme mit Kindern da gewesen, und zwar in harten Rollen und in einer gewalttätigen Realität. Ich denke, die Kinder haben inzwischen auch gelernt, damit ein bisschen umzugehen. Die Gewalt ist sowieso in ihrem Leben präsent. Was wir als Filmemacher versuchen können, ist, dass diese Gewalt verständlich werden kann, dass man zumindest versteht, was vor sich geht. Und dass man versucht, Mechanismen zu zeigen, wie so etwas entsteht."
Die Schlussszene erscheint mir problematisch, weil sie den Schluss nahe legt, dass das Mädchen in Notwehr den Angreifer erschießt. Meinst Du, dass diese Szene Kinder überfordern könnte?
"Überfordern würde ich nicht sagen, aber sie werden auf jeden Fall fragen. Und das ist gut so. Bei vielen Diskussionen habe ich erlebt, dass ein Teil der Zuschauer überzeugt ist, dass das Mädchen den Janvier umgebracht hat, ein anderer Teil sagt nein dazu. Das ist sehr interessant, weil man versucht, Gründe zu finden. Das ist schon wichtig für mich. Warum ich das gemacht habe, das ist natürlich ein Spiel mit dem Zuschauer. Film hat für mich nur einen Wert, wenn solche Momente möglich sind, wenn man sich selber in Frage stellt, wenn man auch die eigene Reaktion in Frage stellt. Man muss schon seinen eigenen Kopf einsetzen."
Die Erzählstruktur ist sehr komplex. Es wird ja nicht linear erzählt, sondern auf verschiedenen Ebenen. Erschwert der Off-Kommentar der Frau, die nach dreißig Jahren zurückblickt, den Zuschauern, gerade den jüngeren, das Verständnis nicht noch zusätzlich?
"Es ist natürlich schwierig. Ich mache nicht einen Film für einen Typus von Zuschauern, oder für Jugendliche oder Erwachsene. Ich versuche im Allgemeinen, verschiedene Schichten anzubringen. Es ist klar, dass jede Lese-Möglichkeit in sich geschlossen sein muss. Aber ich lasse Interpretationen oder Ebenen zu, wie man diesen Film empfangen kann. Sicher kann das mit der Frau erschwerend sein. Man weiß manchmal nicht genau, in welcher Zeitebene irgendwelche Szenen stattfinden. Aber am Schluss ist das eigentlich egal, weil klar sein muss, eine Frau und ein Mädchen versuchen, ihre Erinnerungen in Ordnung zu bringen."
Du bist selbst als Kind aus Haiti weggegangen. Steht Sarah in gewisser Weise stellvertretend für Dich?
"Weniger in der Geschichte selbst als in den Bildern. Die Bilder sind fast ausschließlich Bilder meiner eigenen Erinnerung, nur in anderen Situationen. Es gibt auch diese Szene, in der Sarahs Vater ihr zeigt, wie man eine Pistole bedient. Diese Szene habe ich erlebt mit meinem Vater, der meiner Mutter das zeigte. Zum Glück habe ich nicht so eine tragische Geschichte miterlebt wie Sarah, aber ich kenne solche Geschichten von Freunden und Leuten, die mir sehr nahe waren. Das ist viele Male passiert. Oft stehen in den Diskussionen nach dem Film Leute auf und sagen, das ist ihrer Frau genauso passiert oder ihnen selbst, sie haben Jahre in einem Dachgeschoss verbracht."
Die Geschichte spielt Anfang der 60er-Jahre unter dem Regime von Duvalier. Gibt es Analogien zur eben erst beendeten Militärherrschaft von Raoul Cedras auf Haiti?
"Das funktioniert mit jeder diktatorischen Situation, mit jeder Ausnahmesituation. Es ging mir nicht darum, einen Film über Haiti zu machen, sondern darum, zu verstehen versuchen, was das heißt, wenn Menschen in einer bestimmten Situation leben müssen. Wie wirkt diese Diktatur im Alltag? Ich habe eine Familie gewählt. Und jeder Teil dieser Familie reagiert anders. Ich habe nichts anderes gemacht als etwa Carlos Saura in Spanien, wo man auch diesen Mikrokosmos hatte, der irgendwie kaputtging."
Das heißt, die Geschichte sollte als Parabel von Anfang an übertragbar sein auf andere Diktaturen?
"Kein Produzent würde mein Drehbuch akzeptieren, wenn es nur um Haiti ginge. Kein Fernsehsender würde dafür so ein Budget finanzieren. Wenn man eine Produktion auf dieser Ebene betreiben will, dann muss es schon ein Stoff sein, der universeller ist. Und wenn ich vier oder fünf Jahre meines Lebens für einen Film verbringe, möchte ich auch, dass dieser Film in zehn oder zwanzig Jahren gesehen werden kann und nicht nur an eine bestimmte Aktualität gebunden ist."
Im Film sagt die Großmutter einmal: 'Die Männer gehen, die Kinder bleiben.' Ist das ein haitianisches Sprichwort oder ist das erfunden?
"Erfunden ist es nicht, aber ich fand es passend. Für den ganzen Film gilt, dass die Frauen eine viel größere Rolle spielen. Aus verschiedenen Gründen. Ich habe versucht, mir das zu erklären. Männer sind viel näher an Macht, sind Machtrepräsentanten und Familienoberhäupter. Sie sind auch die ersten, die verschwinden, getötet werden, fliehen müssen oder Kompromisse schließen. Die Frauen sind so etwa wie die zweite Reihe. Sie müssen die Familien retten und die Kinder selbstverständlich. Das ist eine Situation, die sich seit Generationen wiederholt hat in Haiti und in anderen Ländern. Das war natürlich eine kleine Kritik, dass Männer eigentlich kaum Verantwortung tragen."
Warum hast Du den Film den Kindern von Haiti gewidmet?
"Ganz einfach, weil sie die Hoffnung sind. Wir sind eine Bevölkerung von jetzt weitgehend Jugendlichen, die gar keine Chance gehabt haben, die gar nichts haben, aber mit diesem Nichts versuchen zu überleben. Und es gelingt ihnen auch. Wenn ich in der Provinz in Haiti reise, bin ich immer verblüfft zu sehen, wie sie auch spielen können. Wenn man Hunger hat und trotzdem Spielzeug bauen kann, das ist einfach eine Kraft und ein Lebenswille, den ich bewundere."
Interview: Reinhard Kleber
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