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Ausgabe 115-3/2008

MEIN BRUDER IST EIN EINZELKIND

MIO FRATELLO É FIGLIO UNICO

Produktion: Cattleya / Babe Film; Italien / Frankreich 2007 – Regie: Daniele Luchetti – Buch: Daniele Luchetti, Sandro Petraglia, Stefano Rulli, nach einem Roman von Antonio Pennacchi – Kamera: Claudio Collepiccolo – Schnitt: Mirco Garrone – Musik: Franco Piersanti – Darsteller: Elio Germano (Accio Benassi), Riccardo Scamarcio (Manrico Benassi), Angela Finocchiaro (Amelia Benassi), Massimo Poplizio (Ettore Benassi) – Länge: 100 Min. – Farbe – FSK: ab 12 – Verleih: Kool – Altersempfehlung: ab 14 J.

In einer Kleinstadt der italienischen Provinz Latina wachsen 1962 der 13-jährige Accio, sein älterer Bruder Manrico und ihre Schwester Violetta auf. Accio ist das Enfant terrible der einfachen Arbeiterfamilie. Weil er sich benachteiligt und ungerecht behandelt fühlt, rebelliert er, wo es nur geht. Kein Wunder, wenn man ihn "Giftkröte" nennt. Als der gut aussehende Frauenschwarm Manrico in die Fabrik geht und sich in der marxistischen Bewegung engagiert, orientiert sich der aufsässige Accio an einem väterlichen faschistischen Freund und tritt in einer impulsiven Trotzkopfreaktion einer neo-faschistischen Partei bei. Bei jeder Gelegenheit bricht er weiter Streit vom Zaun.

Die Spannungen zwischen den Brüdern nehmen zu, als sich Accio in Francesca, die bildhübsche neue Freundin Manricos, verliebt. Während Accio allmählich von den "Aktionen" seiner fanatischen Faschistengruppe abgestoßen wird und sich nun auch den Kommunisten zuwendet, radikalisiert sich der linksextreme Manrico zunehmend. Er setzt sich auch früh aus dem engen Latina ab, jener lieblos errichteten Satellitenstadt, die der Diktator Benito Mussolini südlich von Rom in den trockengelegten ehemaligen Pontischen Sümpfen hochziehen ließ. Als Francesca ein Kind zur Welt bringt, lässt Manrico sie sitzen und taucht in den terroristischen Untergrund ab. Jahre später wird es der geläuterte Accio sein, der sich um das Kind kümmert.

Daniele Luchettis mehrfach preisgekrönter Kinofilm zählt zusammen mit dem Sechs-Stunden-Opus "Die besten Jahre" (2003) von Marco Tullio Giordana und dem Politkrimi "Romanzo Criminale" (2005) von Michele Placido zu einer Welle italienischer Zeitgeschichtsdramen, die vor allem die politisch unruhigen 60er- und 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts filmisch aufarbeiten. "Mein Bruder ist ein Einzelkind" konzentriert sich dabei erfolgreich auf das Konfliktpotenzial zweier sehr unterschiedlicher Brüder, die sich lieben und hassen und zugleich wichtige ideologische Strömungen jener Jahre symbolisieren.

Mit einer Million Kinozuschauer und fünf Donatellos (den italienischen 'Oscars') erwies sich der prominent besetzte Film in Italien als Publikums- und Branchenliebling. Obwohl politische Phänomene von der Studentenbewegung über Korruption, Mafia und Armut bis hin zum Terrorismus in der erzählten Zeit von etwa zehn Jahren eine wichtige Rolle spielen, wollte Luchetti erklärtermaßen keine Politchronik drehen. "Ideologisch nimmt mein Film bewusst keine Stellung", sagt der 47-Jährige. Im Mittelpunkt stünden vielmehr die menschlichen Leidenschaften, zu denen aber auch politisches Engagement gehört. Und eine konfliktreiche Familie, darf man hinzufügen. Darauf deutet ja unmissverständlich der paradoxe Filmtitel hin, der signalisiert, dass diese Familie unter schweren Spannungen steht. Später wird man erkennen, dass die familiären Bande der Brüder trotz aller Differenzen viel stärker sind als politische Überzeugungen. Im Großen und Ganzen ist es Luchetti auch gelungen, anhand des Brüderzwists die zentralen gesellschaftspolitischen Konfliktlinien jener Jahre zu schildern, ohne historische Lektionen zu erteilen. Allerdings wirken manche der Schlägereien, Provokationen und Anarcho-Aktionen zu oft auf Effekt getrimmt, während auf der anderen Seite die Beschreibung des Privat- und Familienlebens gelegentlich zu episodisch geraten ist.

Schwächen offenbaren die erfahrenen Drehbuchautoren Stefano Rulli und Sandra Petraglia, die schon 1991 bei "Il Portaborse" erstmals mit Luchetti zusammenarbeiteten und mit dem Skript zu Giordanas "Die besten Jahre" ihren größten internationalen Erfolg erzielten, aber auch in der Erzählstruktur. So erscheinen die Off-Kommentare Accios aus der Ich-Perspektive überflüssig. Getragen wird das Brüderdrama von zwei herausragenden Schauspieltalenten: Elio Germano und Riccardo Scamarcio. Vor allem für Germano hat sich der Einsatz gelohnt: In der Rolle des nervösen, aber auch schüchternen Rebellen wurde er für seine Leistung 2007 mit dem Donatello geehrt und war einer der Shooting Stars auf der Berlinale 2008.

Trotz der genannten Schwächen ist "Mein Bruder ist ein Einzelkind" insgesamt ein packendes mediterranes Familien- und Politdrama mit einem bewegenden melodramatischen Schluss, getragen von starken Gefühlen, untermalt von schwungvollen "Canzoni' aus zwei Jahrzehnten, gut gespielt und temperamentvoll inszeniert.

Reinhard Kleber

 

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Ausgabe 115-3/2008

 

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KJK-Ausgabe 115/2008

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