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Ausgabe 61-1/1995

Abbas Kiarostami

"Träume müssen in der Wirklichkeit verwurzelt sein"

(Hintergrund zum Film WO IST DAS HAUS MEINES FREUNDES? und zum Film UND DAS LEBEN GEHT WEITER)

Wer Abbas Kiarostami kennt, kennt seine Sonnenbrille. Tritt er an die Öffentlichkeit, so bleiben seine Augen hinter den dunklen Gläsern verborgen. Er habe empfindliche Augen, hört man sagen. Im Kino leiht uns Abbas Kiarostami seinen Blick auf die Menschen, die das Leben vor seine Kamera führt. Als Filmemacher legt er die Sonnenbrille ab.

In seinem 1989 gedrehten Dokumentarfilm "Hausaufgaben" ("Maschgh e schab") ist Abbas Kiarostami als Regisseur zu sehen. Er befragt Schulkinder nach ihrem Leben zwischen Schule und Elternhaus, nach ihren Freuden und Ängsten. In die Rolle des Fragenden geschlüpft, trägt Kiarostami seine Sonnenbrille. "In 'Hausaufgaben' habe ich den Fehler begangen, meine dunkle Sonnenbrille nicht abzulegen", sagt Abbas Kiarostami heute. "Wäre ein Regisseur hinter der Kamera gestanden, hätte er mir bestimmt gesagt, ich solle die Sonnenbrille ablegen." Eine Brille schränkt das Blickfeld ein. Die Ränder der Brille kadrieren den Blick, lassen den Brillenträger nur einen Ausschnitt des Lebens erkennen. Eine Sonnenbrille taucht diesen Ausschnitt zudem in ein dunkles Licht, das die Details im Schatten leicht übersehen lässt. "Vor der Kamera werden die Kinder nicht die Wahrheit sagen, sondern etwas, was die Erwachsenen befriedigt. Die Kinder haben gelernt, was sie sagen müssen, um der Gefahr aus dem Weg zu gehen." Mit der aufgesetzten Sonnenbrille gibt uns Kiarostami zu verstehen, dass diese Form der Befragung nur eine gefilterte Wahrheit zu Tage fördert.

Kindern schenkt Abbas Kiarostami vor allem in seinen früheren Werken den Blick des sensiblen Filmautors. In den Geschichten von Kindern findet er den Schlüssel zum Verstehen der Erwachsenenwelt, die von sozialen und ethischen Leitplanken eingeengt wird. Für seinen Regiekollegen Ebrahim Forusesch schrieb er Mitte der 80er-Jahre das Drehbuch zu "Schlüssel" ("Kelid"). Während 70 Minuten sucht ein Junge den Schlüssel, mit dem er die Wohnungstüre aufschließen und in die Freiheit hinaustreten kann. Sowohl "Hausaufgaben" wie "Schlüssel" beschränken sich auf die physische Realität, auf das Leben in den Wohn- und Schulzimmern, so wie sie die Erwachsenen geschaffen haben. Die letzte Einstellung in "Schlüssel" weist den Weg von Kiarostamis weiterer Arbeit: Wir sehen den kleinen Amir Mohammad, wie er in die für ihn unzugänglich gebliebene Welt vor den verschlossenen Türen guckt. Wirklichkeit oder Traum?

Schlupflöcher im rigiden gesellschaftlichen Bauplan der Traditionshüter sucht und findet der Junge Ahmad in "Wo ist das Haus meines Freundes?" Mit Schlauheit und nicht zu brechendem Willen zur Solidarität ausgestattet, widersetzt sich Ahmad dem Gehorsam und macht sich auf die Suche nach dem Klassenkollegen, dessen Schulheft Ahmad aus Versehen eingepackt hat. Der Berg zwischen zwei nordiranischen Dörfern wird zum Prüfstein der Freundschaft. Ahmad zögert keinen Moment, den beschwerlichen Weg zu gehen, denn hinter dem Berg liegt der Traum von Freundschaft.

Abbas Kiarostamis Filmografie entpuppt sich als Weg von der physischen Realität der Menschen im Iran hin zu ihren Träumen. "In seiner Funktion entspricht der Traum einem Fenster. Wird die Luft im Zimmer, in dem wir uns befinden, zu stickig, öffnen wir das Fenster zum Traum. Können wir die Wirklichkeit nicht akzeptieren, so träumen wir. Ich vergleiche das mit einem Gefangenen, der Ausgang erhält und danach ins Gefängnis zurückkehrt."

Drei Jahre nach dem Film "Wo ist das Haus meines Freundes?" rekonstruiert und erweitert Kiarostami in "Nahaufnahme" ("Nama-ye nasdik") die wahre Geschichte eines Arbeitslosen, der einer reichen Familie vorgibt, der renommierte iranische Filmautor Mohsen Machmalbaf zu sein. Wie kein anderer iranischer Filmautor würde Machmalbaf die Anliegen der armen Leute präzise auf die Leinwand bringen, begründet der Arbeitslose vor Gericht seine Tat. Kiarostami bringt Betrüger und Betrogene, den falschen und den richtigen Machmalbaf zusammen, lässt sie die Plätze tauschen. Dazwischen liegt der Traum von Freiheit, das Verlangen, die Leitplanken der physischen Existenz zu durchbrechen, Schlupflöcher zu finden.

Danach kehrt Kiarostami zurück in die Gegend, in der sein Film "Wo ist das Haus meines Freundes?" entstanden ist: "Als ich 'Wo ist das Haus meines Freundes?' drehte, habe ich nicht daran geglaubt, meinen Blick je hinter den Berg bei Koker werfen zu können; ich habe nicht gedacht, in dieser Gegend weitere Filme zu drehen. Aber es ging dort einfach weiter." Auslöser war die Natur: 1990 erschüttert ein Erdbeben das Dorf Koker, wo dieser Film gedreht wurde. Nun dreht Kiarostami einen Film über die Suche des Regisseurs von "Wo ist das Haus meines Freundes?" nach seinen beiden Hauptdarstellern. Dieser Film trägt den Titel "Und das Leben geht weiter". Inmitten der Ruinen der alten Welt findet Kiarostamis Alter Ego neues Leben, neue Kraft und er trifft auf ein junges Paar, das am Tag nach dem Erdbeben geheiratet habe. Wahrheit oder Traum? Wie uns Kiarostamis letzter Film "Durch die Olivenbäume" klar macht, haben Hossein und Farchondeh nur davon geträumt, verheiratet zu sein. Aber der Traum geht weiter.

"In der Nacht vor dem Erdbeben haben die Eltern der jungen Frau nein gesagt zur Heirat mit Hossein. In Ländern, in denen die Traditionen stark sind, haben die Toten mehr Gewicht als die Lebenden. Die Toten mischen sich ins Leben ein, und es bleibt unmöglich, mit den Toten ins Gespräch zu kommen." In Kiarostamis neuem Film sind die Toten jene alten Männer und Frauen, die wir in "Wo ist das Haus meines Freundes?" bewegungsarm, oft sitzend, gesehen haben. In den beiden nächsten Filmen sind sie physisch abwesend, doch sie bestimmen nach wie vor das Leben der jungen Generation, Kiarostamis drei Filme regen uns zur Frage an, wer in der iranischen Gesellschaft die sich ins Leben der Jungen einmischenden Toten sind und welches Ereignis das Erdbeben sein könnte.

Kiarostamis Filme werden weltweit verstanden, als würden sie sich auf die international nivellierte Ikonografie berufen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Ohne auch nur ein Augenzwinkern von einem Kompromiss einzugehen, bleiben Kiarostamis Filme tief verwurzelt im persischen Denken, in der persischen Philosophie. "Ein Traum muss in der Wirklichkeit verwurzelt sein", sagte mir Abbas Kiarostami. Seine drei bei Koker gedrehten Filme sind nicht dem homogenen gedanklichen Konzept ihres Autors entsprungen, sondern dem dynamischen Wechselspiel zwischen realen Ereignissen und der dadurch ausgelösten Inspiration. Von Film zu Film bündelt Kiarostami seine Aufmerksamkeit auf ein Motiv, das er akribisch und zugleich mit viel Humor auslotet. Er erinnert an einen Spaziergänger in der Wüste, der zuerst die ganze Landschaft betrachtet, sich dann einer Düne zuwendet, um sich schließlich allein einem Sandkorn zu widmen, das mehr Weisheit und Einsicht offenbart als die Totale.

Robert Richter

 

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