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Ausgabe 119-3/2009

DORFPUNKS

Produktion: Schramm Film Koerner & Weber mit dem Norddeutschen Rundfunk; Deutschland 2009 – Regie: Lars Jessen – Drehbuch: Norbert Eberlein, nach dem gleichnamigen Roman von Rocko Schamoni – Kamera: Michael Tötter – Schnitt: Sebastian Schultz – Musik: Jakob Ilja – Darsteller: Cecil von Renner (Roddy), Ole Fischer (Fliegevogel), Pit Bukowski (Sid), Daniel Michel (Flo), Laszlo Horwitz (Piekmeier), Samuel Auer (Günni), Axel Prahl (Mascher) – Länge: 93 Min. – Farbe – FSK: ab 12 – Verleih: Piffl Medien – Altersempfehlung ab 12 J.

In den letzten Jahren gab es eine große Zahl an deutschen Filmen, in denen die 80er-Jahre wieder auflebten. Mehr als nostalgische Zeitreisen kamen dabei meist nicht heraus. Regisseur Lars Jessen, Jahrgang 1969, ging mit seinem Kinodebüt "Am Tag als Bobby Ewing starb" im Jahre 2005 etwas weiter. Seine Auseinandersetzung mit der Anti-AKW-Bewegung ist eine unterhaltsame und zugleich nachdenklich stimmende Mischung aus Politsatire und Coming of Age-Geschichte, die mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnet wurde. Nun taucht Jessen mit der Verfilmung des autobiografisch gefärbten Romans "Dorfpunks" von Rocko Schamoni erneut in die 80er-Jahre ein.

Als die Punkwelle mit einiger Verspätung auch nach Schleswig-Holstein hinüberschwappt, wird aus dem Töpferlehrling Malte Ahrens der Punk "Roddy Dangerblood". Schon der Name verbindet auf denkbar poetische Weise Stolz und Lächerlichkeit zugleich und verweist auf die Widersprüche, mit denen der Film spielt. Während die Punkbewegung in den Großstädten durch Aktionen gegen die Konsumgesellschaft und das Bürgertum auffiel, bot ein kleiner Ort wie Schmalenstedt an der Ostsee für Punks nur wenig Angriffsfläche. Im Sommer 1984 reicht es schon aus, wenn Roddy sich mit seinen Freunden Fliegevogel, Sid, Flo, Piekmeier und Günni in zerschlissener und bemalter Kleidung, mit der Bierflasche in der Hand, auf dem Marktplatz trifft, um die ansässigen Geschäftsleute zu provozieren. Von seinen liberalen Eltern unverstanden, zieht er – nach ungeliebter Arbeit in der Töpferwerkstatt – am liebsten mit den Freunden durch die Gegend. Allgemeiner Treffpunkt ist eine kleine Anhöhe am Rande eines Ackers. Hier hängen die Punks in ausgedienten Liegestühlen ab, reden, trinken Bier am Lagerfeuer und fühlen sich frei. Keiner von ihnen hat eine Freundin. Auch erste sexuelle Erfahrungen mit Mädchen sind eher eine Enttäuschung. Vorherrschende Freizeitbeschäftigung ist das Saufen und die Prügelei mit rechten Spießern und Bundeswehrsoldaten in der örtlichen Disco.

Und doch wollen Roddy und seine Freunde anders sein und zu Neuem aufbrechen. Sie wollen nichts weniger als das Leben neu erfinden, neue Gedanken, neue Kleidung, neue Musik produzieren. Mitten in der Ruhe ereignislosen Abhängens entsteht so die Idee, eine Punk-Band zu gründen. Noch weiß niemand von ihnen, welches Instrument er spielen wird. Für einen Drei-Akkord-Song wird es schon reichen. Allein die Idee ändert für die Freunde alles. "Merkt ihr was, Leute? Eben waren wir noch Scheiße ... und jetzt sind wir `ne Band!" Auch wenn die Dialoge nicht immer so leicht daherkommen, zeigen Buch und Regie doch ein Gespür für die norddeutsche Subkultur. Für kurze Zeit versuchen die Jungs es mit Proben und bereiten das erste Stück für einen Bandwettbewerb vor. Doch der erste Auftritt endet desaströs. Zu ihrer Enttäuschung werden sie Vorletzter und nicht mal Letzter. Auch wenn sie zu den schlechtesten Bands der Welt zählen, den verpatzten ersten Auftritt stecken sie nicht so leicht weg. Behutsam und nicht ohne Situationskomik bauen sich die Freunde gegenseitig wieder auf. Am Ende sind sie sich einig: Der Auftritt war Scheiße, aber subversiv! Jessen lässt den Zuschauer in Szenen wie dieser atmosphärisch spüren, wie wichtig es für die Jugendlichen ist, Teil einer Gemeinschaft zu sein und Geborgenheit in der Clique zu erfahren. Das hat mit Punk nicht viel zu tun, wohl mit Momenten, die universell stimmig sind.

Wie schon das Buch handelt auch der Film weniger von Punks, als vielmehr von Freundschaft, von jugendlichem Auf- und Ausbruch, von linkischem Aufbegehren, von Widersprüchen und Schwierigkeiten bei der Suche nach etwas, das womöglich für sie Freiheit sein könnte. Für Roddy ist Freiheit vor allem Spaß, für Sid bedeutet Freiheit alles: frei sein von Kommerz, vom System, von Konformität. Hierin liegt der innere Konflikt begründet, der am Ende des Sommers dazu führt, dass die Wege der Freunde auseinander gehen. Manchmal setzt der Film zu stark auf Metaphern, etwa wenn nach Tagen unbefriedigender Bandproben die Dorfpunks mit ihrem Schlauchboot auf der Ostsee treiben und im Nebel katastrophal kentern. Der Zuschauer ahnt: Ebenso wie das Schlauchboot steuert auch die Band nach diesem Sommer unweigerlich ihrem Ende entgegen. Auch Figuren und Ausstattung spielen mit Klischees und wirken mitunter stereotyp, so wie Roddys stets um Liberalität bemühte Eltern, die biederen Geschäftsleute in der Kleinstadt oder die rechten Sprücheklopfer und Schläger. Davon abgesehen erzählt der Film mit stimmigen Bildern, und vielen Songs der 80er von der Suche nach Freiheit und Freundschaft und von der Notwendigkeit des Weiterziehens, wenn man sich treu bleiben will. Während Fliegevogel am Ende des Sommers mit neuen Freunden kifft und säuft und Sid eine Freundin hat, geht Roddy neue musikalische Wege.

Die jungen Darsteller verfügten bislang über keine nennenswerten Filmerfahrungen. Aber es ist gerade ihre Authentizität und Power, die die Qualität des Films ausmacht. Hauptdarsteller Cecil von Renner als verträumter Fantast und Ole Fischer als sein flattriger Freund Fliegevogel sind ein ideales Gespann, auch wenn Cecil von Renner als Punk etwas zu blond, zu fröhlich und zu adrett ist. In einer kleinen Nebenrolle als alternder Rocker und Kneipenwirt ergänzt Axel Prahl das Spiel. In seiner Kneipe führt er Roddy in die Welt der Musik ein, legt ganz selbstverständlich das legendäre Album "Y" von der Pop Group auf, später hört man auch Jazz bei ihm. Sobald die Musik seiner Platten erklingt, wirkt Prahl melancholisch und glücklich zugleich. Zu den anrührendsten Szenen gehören jene, in denen sich Roddy, von seinen Freunden verlassen, Prahl anvertrauen will. Doch für den musikalischen Weltenbummler zählt nur die Musik, er kann mit niemandem mehr kommunizieren. Wohin der Weg gehen soll, das muss Roddy für sich allein herausfinden. "Dorfpunks" ist ein beeindruckender kleiner Film über Punks auf dem Dorfe Anfang der 80er-Jahre und eine Jugend, in der alles auf den Weg gebracht wird.

Irene Schoor

 

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Ausgabe 119-3/2009

 

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Hintergrundartikel

LIPPELS TRAUM – 2008|


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