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Ausgabe 119-3/2009

CORALINE

CORALINE

Produktion: LAIKA, Focus Features; USA 2008 – Regie und Buch: Henry Selick, nach dem gleichnamigen Roman von Neil Gaiman – Schnitt: Christopher Murrie, Ronald Sanders – Musik: Bruno Coulais – Stimmen (im Original): Dakota Fanning, Teri Hatcher, John Hodgman, Ian McShane, Jennifer Saunders, Dawn French u. a. – Länge: 100 Min. – Farbe – FSK: ab 6 – Verleih: Universal Pictures International Germany) – Altersempfehlung: ab 10 J.

Wenn der Regen gegen die Scheibe trommelt, erscheint die Welt diffus. Starrt man lange genug hin, verschwimmen die Bilder aus der Wirklichkeit mit denen aus der Fantasie. Coraline Jones langweilt sich schrecklich an solchen Tagen. Erst vor kurzem ist das Mädchen mit seinen daheim arbeitenden Eltern in das einsam gelegene, verwinkelte alte Haus gezogen. Gerne möchte es weiter die unwirtlich erscheinende Umgebung erkunden, wo ihm schon ein seltsamer Junge und eine nicht geheuer wirkende schwarze Katze über den Weg liefen. Doch auf Coralines Frage hin, ob sie hinaus dürfe, wird ihr von der nicht mal vom Computer aufblickenden Mutter kurz beschieden: "Regen macht Matsch und Matsch macht Dreck." Auch dem gutmütigeren Vater fällt nichts anderes ein, als die aufgeweckte Tochter mit dem Rat aus seinem Arbeitszimmer zu scheuchen: "Dieses Haus ist 150 Jahre alt. Erforsche es doch. Zähl die Türen oder alles, was blau ist." Kurz darauf entdeckt Coraline im Wohnzimmer eine niedrige Pforte. Dahinter befindet sich eine Backsteinwand. Noch nachts im Bett zwischen Wachen und Träumen lockt diese geheimnisvolle Öffnung. Und wirklich – jetzt erstreckt sich ein Gang dahinter und das Kind gelangt in eine Parallelwelt. Alles hier ist genauso wie daheim – nur besser organisiert. Da gibt es ein Paar, das den Eltern total gleicht, leckeres Essen kocht, über Zeit verfügt und den Garten in ein Blumenparadies verwandelt hat. Merkwürdig ist nur, dass sie statt Augen seltsam blicklose schwarze Knöpfe im Gesicht tragen.

Henry Selick hat mit "Coraline" aus dem gleichnamigen Kinderroman des Comic- und Fantasy-Autors Neil Gaiman (auf Deutsch 2003 im Arena-Verlag erschienen) einen begeisternden, wunderbar schaurigen Puppentrickfilm gezaubert. Im Vorspann sehen wir, wie solche Puppen genäht werden. Und bereits an dieser Stelle, wenn die Nadel durch die Knöpfe sticht, die als Augen fungieren, spüren wir, dass es sich hier nicht um Disney-Süßigkeiten, sondern um kräftigere Kost handelt. Der Stop-Motion-Künstler Selick ("James und der Riesenpfirsich", 1996) gestaltete einst aus Tim Burtons Geschichtenkonzept und Figurenversion den zum Klassiker gewordenen Animationsfilm "The Nightmare before Christmas". Und spätestens mit diesem neuen skurrilen Meisterstück wird er zu den ganz großen Trickfilmmagiern zählen.

Zuerst genießt Coraline die verlockende, bunte Alternative, aber ein wenig suspekt kommt sie ihr von Anfang an vor. "Ich bin deine andere Mutter", hat ihr die Frau freundlich erklärt. Vielleicht erscheint sie ihr zu besitzergreifend. Jedenfalls schlüpft das Mädchen wieder durch den Gang zurück, um sich zu einem anderen Zeitpunkt erneut anlocken zu lassen. Die schon im normalen Leben reichlich verdreht wirkenden Mitbewohner des Hauses tauchen in noch verrückteren Konstellationen in der anderen Welt wieder auf. Einzig die Katze bleibt immer sie selbst – nur dass sie hier sprechen kann und das Mädchen vor der "anderen Mutter" warnt. Doch darauf kommt es von selbst. Denn diese bietet Coraline an, für immer hier zu bleiben. Dazu müsse sie sich nur ebenfalls Knopfaugen annähen lassen. Als das Kind höflich ablehnt, entfaltet sich ihre wahre dämonische Seite und schließlich muss Coraline noch ihre wirklichen Eltern aus den Klauen der Hexe befreien.

Gruselige und drollige Geschöpfe geistern durch den Film. Sie bilden einen kuriosen Kosmos, der ein wenig an "Alice im Wunderland" erinnert. Niedliche Mäuse verwandeln sich in gefräßige Ratten, eine riesige Gottesanbeterin krabbelt als vom "anderen Vater" gesteuerter Traktor über die Wiese, es gibt bissige Blumen und ein riesiges Spinnennetz, in dem sich die kleine Heldin verfängt, sowie ein Klavier, das den Spieler spielt und viele weitere höchst einfallsreiche Elemente. Alles ist perfekt arrangiert und inszeniert, gerät aber nie zum Selbstzweck. Das Team um Henry Selick spielt dabei nicht nur mit den Möglichkeiten der räumlichen Darstellung, wie in Kinos mit 3D-Ausstattung zu sehen ist, sondern setzt sie klug ein, um uns in die fantastischen Abenteuer des mutigen Mädchens hineinzuziehen. Gemeinsam mit Coraline erleben wir, dass es Träume und Vorstellungskraft braucht, um innerlich zu wachsen und dem realen Leben die guten Seiten abzugewinnen.

Ina Hochreuther

 

Bundesverband Jugend und Film e.V.CORALINE im Katalog der BJF-Clubfilmothek unseres Online-Partners Bundesverband Jugend und Film e.V.

 

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Ausgabe 119-3/2009

 

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Interviews

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Hintergrundartikel

LIPPELS TRAUM – 2008|


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