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Ausgabe 119-3/2009

"Inspiriert haben uns die Schwarz-Weiß-Fotos der Zeit, wir suchten zeitgenössische Gesichter"

Gespräch mit Michael Haneke über seinen Film "Das weiße Band"

(Interview zum Film DAS WEISSE BAND)

KJK: Welche Bedeutung hat der beginnende Faschismus für Ihren 1913/14 im protestantischen Norden Deutschlands angesiedelten Film?
Michael Haneke: "Zeit und Ort können zu dieser Verbindung verleiten, es geht um eine Generation, die dem Faschismus entgegentreibt. Ich möchte aber nicht, dass man den Film auf deutschen Faschismus reduziert. Sobald jemand ein Prinzip, eine Ideologie oder eine Religion verabsolutiert, wird er automatisch unmenschlich. Diese Verabsolutierung ist die Wurzel eines jeden Terrorismus, sei er politisch von rechts oder links oder egal von welcher Religion ausgehend. Wenn eine Idee zur Ideologie pervertiert, wird sie gefährlich. Es handelt sich auch nicht um ein spezifisch deutsches Problem, sondern um eines von großer Allgemeingültigkeit."

Hätte die Handlung auch im katholischen Umfeld spielen können?
"Sie kann mit etwas veränderten Details in jedem Milieu stattfinden, aber natürlich ist der Protestantismus mit seiner Strenge ein exemplarisches Beispiel. 'Das weiße Band' ist auch ein strenger Film über Strenge."

Wie haben Sie mit den vielen Kindern in diesem Ensemble-Film gearbeitet?
"Es war meine große Angst, diese Kinder nicht zu finden. Papier ist geduldig. Ich kann mir alle möglichen Szenen ausdenken, ob sie dann funktionieren, steht auf einem anderen Blatt. Um auf der sicheren Seite zu sein, haben wir ein halbes Jahr vor Drehstart mit dem Casting von 7000 Kindern begonnen. Inspiriert haben uns die Schwarz-Weiß-Fotos der Zeit, wir suchten zeitgenössische Gesichter. Mit einem begabten Kind ist es leicht zu arbeiten. Die Kleineren waren manchmal schwierig, weil die sich nicht lange konzentrieren wollen oder können, das braucht Zeit und Geduld. Mit den großen Kindern habe ich gearbeitet wie mit den Erwachsenen. Es geht nicht nur darum, gute Schauspieler zu haben, sondern gute Schauspieler in der richtigen Rolle."

Warum die Entscheidung, in Schwarz-Weiß zu drehen?
"Die Bilder, die wir aus der Zeit kennen, waren in Schwarz-Weiß. Ich liebe Schwarz-Weiß-Fotografie und nehme gerne die Gelegenheit dazu wahr. Dadurch wird der Naturalismuseffekt abstrahiert und verfremdet. Auch die Erzählerstimme aus dem Off ist ein Verfremdungsmittel."
Ihre Filme handeln von Gewalt und Schuld. Woher kommt diese Faszination?
"Wir kommen alle aus einer jüdisch-christlichen Welt, wo die Schuldfrage uns sozusagen mit der Muttermilch eingeimpft wird. Das normale Unterhaltungskino verdrängt alles, was uns irgendwie näher angeht. Ich bin weder ein Fan von Schuld noch von Gewalttätigkeiten, aber sie bestimmen unsere Welt und man kommt nicht umhin, davon zu sprechen und die Thematik darzustellen."

Und Sie entlassen den Zuschauer mit Fragen aus dem Kino.
"Die Aufgabe von Kunst ist es, Fragen zu stellen, nicht Antworten zu geben, die bringen nie weiter. Fragen können weiterhelfen, manchmal. Das ist das Prinzip meiner Filme. Sie sind wie eine Sprungschanze. Springen muss der Zuschauer selbst."

Als "Spezialist" für die Erforschung der menschlichen Natur beschäftigen Sie sich vor allem mit ihren negativen Seiten.
"Ein Drama ist dazu da, Konflikte zu zeigen und keine Idylle."

Sie setzen Musik sehr gezielt ein, verzichten aber auf einen Soundtrack.
"Der Schlusschor ist die evangelische Nationalhymne, das lag auf der Hand. Außerdem passt der Text von Martin Luther 'Eine feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen' für einen Kriegsbeginn sehr gut. Die eingesetzten Musikstücke von Schumann, Bach und Schubert schienen mir adäquat. Einen Soundtrack brauche ich nicht. Mir ist Musik zu wichtig, als sie zur Kaschierung meiner Fehler zu benützen."

Mit Michael Haneke sprach Margret Köhler

 

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Ausgabe 119-3/2009

 

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Interviews

Elliot, Adam - "Alles in allem stecken in diesem Film fünf Jahre meines Lebens"| Haneke, Michael - "Inspiriert haben uns die Schwarz-Weiß-Fotos der Zeit, wir suchten zeitgenössische Gesichter"| Kappler, Petra - "Wir sehen die Zeichen der Zeit"| Sommer, Gudrun und Petra Schmitz - "Wir wollen möglichst viele Kinder erreichen"| Tasdiken, Atalay - "Alles, was in dem kleinen Dorf in Anatolien passiert, wird durch die Tradition, die Hierarchie und nicht durch das Gesetz bestimmt"|

Hintergrundartikel

LIPPELS TRAUM – 2008|


KJK-Ausgabe 119/2009

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