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Ausgabe 127-3/2011

"Kindheit ist sehr intensiv. Auch was die Schmerzen betrifft"

Gespräch mit Guy Nattiv, Regisseur und Co-Autor des Films "Sintflut / Mabul"

(Interview zum Film SINTFLUT)

KJK: Die biblische Geschichte von Noah und seiner Arche ist in Ihrem Film ständig gegenwärtig, nicht nur im Titel. Bisweilen aber wird sie auch konterkariert. Zum Beispiel mit dem Boot, das dem behinderten Tomer beinahe zum Verhängnis wird.
Guy Nattiv: Wir beziehen uns in unserem Film in der Tat immer wieder auf die biblische Geschichte, erlauben uns aber gelegentlich eine geradezu entgegengesetzte Haltung einzunehmen, eine andere Moral zu vertreten. So ist das Boot in unserem Film keine sichere Arche. Tomer ertrinkt fast damit. Aber am Ende wird er ja doch gerettet und aus Shachar, dem bösen Jungen, wird der gute, der Tomers jüngerem Bruder Yoni hilft, ihn noch rechtzeitig aus dem Wasser zu ziehen. In "Mabul" ist die Geschichte von Noah eine Metapher dafür, dass die Sünder ihre Schuld wieder gutmachen können. Sie werden nicht bestraft, sondern kriegen eine zweite Chance. Und der Rechtschaffene ist ein Behinderter. Tomer nimmt bei uns die Rolle von Noah ein, von dem es ja in der Bibel heißt, dass er unschuldig ist. Er ist der unschuldige Mensch, der seine zerstörte Familie wieder zusammenbringt. Sie ist in der stürmischen See des Lebens selbst fast untergegangen, seit er vor zehn Jahren in eine Einrichtung abgeschoben wurde, die jetzt geschlossen wird. Die Rückkehr zu seiner Familie in das Dorf an der israelischen Küste eine Woche vor der Bar-Mizwah seines jüngeren Bruders zwingt die auseinander gefallene Familie Roshko plötzlich wieder miteinander zu kommunizieren, um für den behinderten Jungen sorgen zu können. Damit bringt Tomer etwas Freude und Licht in das Leben seiner Familie zurück – und seine Eltern erhalten die Chance, sich ihrer Schuld zu stellen und einander zu vergeben.

Was genau müssen die Eltern sich selbst und dem jeweils anderen vergeben?
All das, was sie sich und einander vorgemacht, wie sie sich innerhalb der eigenen vier Wände und außerhalb verhalten haben. Und was sie versäumt haben, seit der Vater Tomer nach dem Nervenzusammenbruch seiner Frau weggegeben hat, was sie ihm nie hat verzeihen können. Seither konnten die beiden nicht mehr miteinander und haben nicht nur den anderen und Tomer vollkommen allein gelassen, sondern auch ihren jüngeren Sohn Yoni. Der hat selbst jede Menge Probleme und musste von klein auf allein sehen, wie er damit klar kommt. Aber nun können die Eltern anfangen, sich und einander zu verzeihen. Das ist ein langwieriger Prozess, der zu Ende des Films überhaupt erst beginnt.

Yoni entspricht Ihnen selbst, nicht?

Ja, Yoni ist so wie ich. Ich meine, ich hatte auch eine komplizierte Kindheit. Die war nicht schrecklich wie bei ihm, aber ich selbst war auch klein, habe auch ein Aufbau-Pulver eingenommen, um stärker zu werden, was aber nicht geklappt hat. Meine Stimme war auch so schrecklich hoch, dass die Leute am Telefon zu mir gesagt haben: "Mädchen, wo ist deine Mutter?" In der Schule haben die Jungen mich deswegen gehänselt und die Mädchen haben mich verteidigt. Das ging so bis zur höheren Schule. Damals war ich wirklich sehr allein und habe meinen Eltern daran die Schuld gegeben. In der Oberstufe bin ich dann gewachsen und meine Stimme wurde endlich tiefer. Insofern ist Yoni genau wie ich – und als ich Yoav Rotman beim Vorsprechen gesehen habe, habe ich mich selbst wiedergesehen. Ich mag ihn wirklich sehr!

Gab es in Ihrer Familie auch einen Behinderten?
Nein. Aber ich habe einen Freund aus Kindertagen, den jeder "Popeye" nannte. Er war irgendwie zurückgeblieben, ein Autist, und wohnte in unserer Nachbarschaft. Der hat mich zu der Figur von Tomer inspiriert. Im Zusammenhang mit dem Film habe ich ihn nach zehn Jahren wieder besucht. Er hat keine Familie, nichts, er lebt davon, dass Leute ihm Geld geben, Nahrung – sie sind sehr nett zu ihm. Also, das ist der Mann, den ich die ganze Zeit im Kopf hatte.

Alles beginnt in der Kindheit.
Alles, alle Gefühle, alles. Man sagt ja, dass alles, was man schreibt, etwas von einem selbst ist. Kindheit ist sehr intensiv. Auch was die Schmerzen betrifft.

Und wenn man das offenbart, tut es auch weh?
Manchmal ist es eine Erleichterung. Es ist wie das Bild einer Grenze, die man in seinem Leben überqueren muss. Ja, ich habe schon viel mit diesem Film zu tun.

Sie und Ihre Co-Autorin Noa Berman-Herzberg haben auf der Berlinale 2002 den "Gläsernen Bären" für Ihren gleichnamigen Kurzfilm bekommen. Was hat Sie an dieser Geschichte so interessiert, dass Sie dem 28 Minuten dauernden Kurzfilm nach so langer Zeit noch einen Spielfilm von 101 Minuten haben folgen lassen? Und worin unterscheiden die sich?
Zwischen den beiden Produktionen sind genau neun Jahre vergangen. Davon haben wir allein fünf Jahre an dem Script gearbeitet. Es war ein langer Prozess. Die Geschichte der Brüder war schon im Kurzfilm gefunden, aber die Eltern waren da nur sehr gering entwickelt. Der Spielfilm kreist nicht nur um die Beziehung dieser Familie untereinander, sondern auch von jedem Gesichtspunkt aus um jede einzelne Person. Und die Charaktere der Eltern zu finden, war schwierig. Was ist die Mutter für eine Frau, wie bewältigt sie ihre Probleme, was für ein Typ ist der Vater? Ihre Beziehungen innerhalb und außerhalb ihres Hauses herauszuarbeiten, war schon delikat – und am Ende haben wir die Rolle mit Ronit Elkabetz, der Darstellerin der Mutter, zusammen geschrieben. Ronit, die selbst schon Drehbücher verfasst und Regie geführt hat, hat uns dabei wirklich sehr geholfen. In Israel ist sie sehr berühmt, war auch schon einige Male in Cannes und ist eben auch eine phantastische Schauspielerin.

Halten Sie den Film denn für einen Kinderfilm?
Viele Leute haben mich gefragt, ob "Mabul" ein Kinderfilm ist. Nein, ist er nicht, weil Kinder mit diesem Thema allein überfordert wären. Aber ich denke, das ist ein Film für die ganze Familie, wie z.B. "The Black Balloon" aus Australien. Ich bekam die Unterstützung dafür von einem israelischen Kinderfilm-Fonds, trotzdem habe ich ihn nicht als reinen Kinderfilm angelegt, sondern als Familienfilm.

Wie hat Tomer seine Rolle erarbeitet?
Er hat erst mal eine einjährige Recherche gemacht. Ich meine, wir haben seinen Charakter gemeinsam erarbeitet, um ihn wirklich authentisch zu machen – und als wir raus hatten, was wir wollten, haben wir wie an einer Skulptur gearbeitet, festgelegt, wie er redet, wie er seine Hände bewegt, wie er guckt, wie er geht – also wir wollten, dass er echt wirkt, also auch nicht zu viel macht. Und ich habe Michael Moshonow vertraut, ihn nicht überwacht, und er war sehr genau, sehr akkurat. Und diesen Typ über den ganzen Film beizubehalten, war nicht einfach. Wenn wir mit den Dreharbeiten des Tages fertig waren, blieb er Tomer, weil er so konzentriert in der Figur war und Angst hatte, diese Haltung zu verlieren. Auch wenn wir dann gegessen haben, hat er sich selbst und auch die Hände bewegt wie Tomer, ja, es war sehr schwer für ihn, wieder da raus zu kommen. Michael ist wirklich sehr talentiert.

Ihr Film wurde beim internationalen Film-Festival in Haifa 2010 mit drei Preisen ausgezeichnet, als bester Spielfilm, für die beste Kameraführung und für die schauspielerische Leistung von Yoav Rotman. Außerdem wurde "Mabul" sechs Mal für den israelischen Akademie-Preis nominiert und Michael Moshonov gewann einen Preis als bester Nebendarsteller. Ihr Film wurde dann am 2. April des vergangenen Jahres zum Autismus-Tag vor Behinderten in New York aufgeführt. Können Sie mir von der Aufführung erzählen?
Das war unwahrscheinlich – es war zum ersten Mal, dass die Vereinten Nationen einen Film mit allen Delegationen in dem UN-Gebäude in New York aufgeführt haben. Sie haben dort Leute mit Familienmitgliedern eingeladen, die an Autismus leiden. Das war für mich schrecklich, ich hatte große Angst, dass sie uns kritisieren würden – aber das Gegenteil war der Fall. Sie haben zum Beispiel gesagt: "Das hat mich an meinen Sohn erinnert!" Also ich war danach soooo erleichtert. Auch bei unserer Premiere in Israel – das war im März 2010 – war das so. Zuvor war ich mir eigentlich sicher, dass die Leute sagen würden: "Nein, so sind die Autisten nicht!" Aber das Gute ist, dass jede autistische Person anders ist, jede ihren eigenen Charakter, ihre eigene Persönlichkeit hat. Und ich wollte mit Tomer ja genau diese Person zeigen. Dennoch war ich beide Male sehr aufgeregt.

Erzählen Sie uns noch etwas von sich?
Gern. Ich habe an der camera obscura-Filmschule in Tel Aviv studiert, habe einige Kurzfilme gemacht, die auf vielen Festivals gezeigt wurden. Ich habe auch Werbefilme gedreht und werde im Juli in Polen mit meinem nächsten Film "Son of God" anfangen. Kennen Sie den chassidischen Rapper Matisyahu? Er wird die Hauptperson in meinem Film sein. Sein Vater ist in diesem Film ein Holocaust-Überlebender und sie fahren gemeinsam nach Polen, um den Mann zu finden, der seinen Vater bzw. Matisyahus Großvater gerettet hat. Das Problem ist, dass Vater und Sohn seit zehn Jahren nicht miteinander reden, weil der Sohn ein Lied über den Vater gemacht hat, dass der ihm nicht vergeben kann. Und auf dieser Reise haben sie die Chance, einander wieder zu finden, was sehr lustig ist – ich meine, das ist nicht das ganze schwere Polen-Problem. Ja, und während dieser Reise lernen sie sich wieder als Vater und Sohn zu finden. Und natürlich finden sie auch Alexander Gordinsky, der das Leben des Vaters bzw. Großvaters gerettet hat.

Spielt der Holocaust auch in Ihrer Familie eine Rolle?

Ja, alle in meiner Familie sind Holocaust-Überlebende. Meine Eltern kommen aus Rumänien und Polen. Mein Großvater hat den Holocaust überlebt, als einziger aus seiner Familie. Wir sind vor zwei Jahren mit ihm nach Polen gefahren, die ganze Familie, das war sehr emotional. Ich habe auch noch einen Bruder und eine Schwester – ich bin der Älteste. Aber ich bin ja schon die zweite beziehungsweise dritte Generation. Übrigens hatte ich mal eine deutsche Freundin, deren Großvater war ein SS-Soldat und wir hatten trotzdem eine normale Kommunikation. Also mein Großvater sagte mir: "Dieses Deutschland ist anders, die neue Generation ist völlig anders, also die Mehrheit."

Mit Guy Nattiv sprach Uta Beth

 

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Ausgabe 127-3/2011

 

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Interviews

Aschan, Lisa - Eine Welt voller Abhängigkeiten| Báez, Irina Gallardo - "Hannelore wollte, dass ich die Isabel spiele, und nicht, dass ich die Isabel bin."| Gratza, Ellen - "Ich sehe das Kinderfilmfest auch als Experimentierfeld für Medienarbeit"| MacLean, Andrew Okpeaha - "Wir können unsere eigenen Geschichten erzählen und der ganzen Welt zeigen, wie wir sind."| Nattiv, Guy - "Kindheit ist sehr intensiv. Auch was die Schmerzen betrifft"| Ocelot, Michel - "Lotte Reiniger hatte diese tolle Idee mit den Silhouetten und ich bin ihr Erbe"| Rieman, Ziska und Luci van Org - "Wir wären ein schönes Duo Infernale gewesen"| Schesch, Stephan - "Die Schublade Trickfilm gleich Kinderfilm ist sehr deutsch"| Sommer, Gudrun - "Der DEFA-Kinderdokumentarfilm hat seine Spuren hinterlassen"|

Hintergrundartikel

Förderung von Kinderfilmen nach Originalstoffen|


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