Produktion: Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin / Kieft und Politt Filmtheater GmbH / SFB, Bundesrepublik Deutschland 1994 – Regie und Buch: Cornelia Schwartz-Grünberg, nach dem Buch "Paul IV. und die Schröders" von A. Steinhöfel – Kamera: Hermann Dernbecher – Schnitt: Barbara Gebler – Musik: Andreas Grünberg – Darsteller: Karl Grünberg (Paul Walser), Marie Klabunde (Delphine Schröder), Kathrin Waligura (Marianne Walser), Axel Werner (Paul Walser sen.) u. a. – Länge: 68 Min. – Farbe – Vertrieb: DFFB, Pommernallee 1, 14052 Berlin, Tel. 030 / 303071, Fax 3019875 – Altersempfehlung: ab 8 J.
Die große Überraschung des diesjährigen Geraer Kinderfilmfestivals war "Paul IV.", ein Kinofilm, der nicht ins Bild passt, weil er – mit Leichtigkeit – realisiert, was hierzulande angeblich nicht mehr geht: Eine kulturell authentische und kindgerechte Geschichte, die ein gesellschaftlich relevantes Thema in eine spannende Filmerzählung fasst.
Bezeichnend für das aktuelle Klima in der deutschen Kinderfilmdiskussion wurde "Paul IV." zwar nicht mit einem regulären Preis im Wettbewerb, dafür jedoch von der Fachjury, Mitgliedern des MDR-Rundfunkrates, und der Jury des jungen Publikums mit zwei Spezialpreisen geehrt. Weit entfernt von den kurzen, schnellen, lauten, glatten Vermittlungsformen, welche die Wahrnehmung der Kinder in den letzten Jahren prägten, löst "Paul IV." das gute – selten gewordene – Gefühl aus, dass Kinder hier ernst genommen, sprich weder mit pädagogisch erhobenem Zeigefinger belehrt noch mit leichter Kost abgespeist werden.
Das Spannende an "Paul IV." ist vielleicht gerade dem Umstand zu verdanken, dass es sich nicht um das Werk eines Profis, sondern um einen Abschlussfilm der Deutschen Film- und Fernsehakademie handelt. Autorin Cornelia Schwartz-Grünberg hat für ihre vom SFB mitfinanzierte Low-Budget-Produktion ihre halbe Familie eingespannt, um in vielen präzise gestalteten Situationen die Geschichte von einem Jungen zu erzählen, der sich gegen den Willen seiner Eltern mit Nachbarskindern anfreundet: Ihre beiden Söhne Kurt (13) und Alexander (7) spielen Hauptrollen in diesem Film, der die Wurzeln der Fremdenfeindlichkeit schildert, indem er die Fremdheit sich unter Deutschen abspielen lässt.
Jenseits jeglicher Anbiederung im formalen und ganz ohne den starren Blick auf den Erfolg an der Kinokasse hält sich Cornelia Schwartz-Grünberg als Regisseurin an die Qualität, die auch gute Literatur ausmacht. Sie benutzt ihre Phantasie nicht, um die Wirklichkeit schön zu färben, sondern vermittelt mit ihrer Story aus dem Hier und Jetzt ein authentisches Stück Zeitgeschichte, in der sich die ganz "normale" menschliche Einstellung ihres dreizehnjährigen Protagonisten dann als ziemlich utopisch erweist. Denn Paul IV. – so genannt, weil er das blühende Geschäft einer deutschen Metzgerfamilie in der vierten Generation fortführen soll – findet nirgends in seiner Umwelt Rückhalt bei seinem Versuch, drohendes Unrecht zu verhindern.
Paul IV. – das stellt gleich die Eingangssequenz, die anhand der Eröffnungsfeier einer neuen Metzgereifiliale eine deutsche Kleinstadtgesellschaft skizziert, unmissverständlich klar – ist zu wach, zu sensibel und nachdenklich, um der banalen Fresslust, wie sie vom Betrieb seines Vaters erfolgreich bedient wird, Geschmack abzugewinnen. Wie der gierige Fleischkonsum der Provinzbürger Ekel in ihm auslöst, so befremdet ihn auch ihr stures Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen einer neu zugezogenen Familie, das sich im Laufe weniger Wochen zu einem regelrechten Kesseltreiben auswächst. Diese Familie Schröder, die nächtens in einem verbeulten Auto vor einer schon lange leer stehenden, verfallenen Villa auftaucht, passt den wohlanständigen Bewohnern des am Stadtrand gelegenen Viertels mit seinen schönen Häusern und Gärten schon deshalb nicht, weil sie aus vier auf so ungewöhnliche Namen wie Sabrina, Dandelion, Delphine und Erasmus hörenden Kindern und einer ledigen Mutter besteht, die erst Anfang dreißig und noch dazu attraktiv ist. Was Paul fasziniert – ihr freiheitliches, von der langweiligen Ordentlichkeit des umgebenden Milieus abweichendes Verhalten, die phantasievolle Lebendigkeit der selbständigen Kinder – darüber zerreißen sich hinter zugezogenen Gardinen die Nachbarn das Maul, während ihre braven Söhnchen "die Fremden" bis hin zur Körperverletzung schikanieren.
Normale Malheurs, wie sie in jedem Haushalt passieren, wachsen sich unter den argwöhnischen Blicken der Spießer schnell zu "Abnormitäten" aus, und dass dem Ältesten die Pythonschlange entwischt und das Meerschweinchen der Nachbarn verschlingt, wirkt wie Öl auf das Feuer der Selbstgerechten. Nun fühlt sich sogar ein Nachbar, dessen nagelneuer BMW beschädigt wurde, berechtigt, den Jungen aus der Schröderfamilie dafür verantwortlich zu machen und zu verprügeln. Paul stößt beim Versuch, seinen Vater zu bewegen, dem bedrohlichen Klatsch ein Ende zu bereiten, auf wütende Abwehr: Der Metzger denkt gar nicht daran, sich seine langjährigen Kunden zu vergraulen. Als Paul seine Mutter schließlich überzeugt hat, dass sie nicht mehr schweigen darf und mit Frau Schröder reden muss, ist es schon zu spät: Das Nachbarhaus steht wieder leer.
Obwohl das Thema von "Paul IV." Fremdenfeindlichkeit ist, behandelt Cornelia Schwartz-Grünberg das Politische des Stoffs nicht vordergründig. Der Film hält auch da stand, wo er von Kindern vielleicht noch nicht in allen Dimensionen begriffen wird. Er bezieht seine Spannung aus einer zarten, unausgesprochenen Liebesgeschichte. Paul, der sich für die gleichaltrige Delphine schon am Tag nach ihrem Einzug zu interessieren begann, gibt nach dem Verschwinden der Schröders keine Ruhe, bis er das patente Mädchen wieder gefunden hat und ihr mit seinem Erscheinen am neuen Wohnort endlich zeigen kann, wie viel ihm an ihr liegt.
Das kleine Happy End der neuerlichen Begegnung gibt ein großes Gefühl. Es bleibt zu hoffen, dass das Fehlen solcher sensibler, gut gemachter Filme, die unterhaltsam sind, ohne dabei gleich auch oberflächlich zu werden, auf dem Markt überhaupt als Lücke erkannt und jungen Zuschauern die Chance gegeben wird, "Paul IV." zu erleben.
Elke Wendt-Kummer
Zu diesem Film siehe auch:
KJK 64-3/1995 - Hintergrund - "Paul IV"
KJK 63-3/1995 - Kinder-Film-Kritik - Paul IV.
PAUL IV. im Katalog der BJF-Clubfilmothek unseres Online-Partners Bundesverband Jugend und Film e.V.
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