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Ausgabe 63-3/1995

UNSERE WELT WAR EINE SCHÖNE LÜGE

IMAGINARY CRIMES

Produktion: Morgan Creek Production, USA 1994 – Regie: Anthony Drazan – Buch: Kristine Johnson & Davia Nelson, nach dem Roman von Sheila Ballantyne – Kamera: John J. Campbell – Schnitt: Elizabeth Kling – Musik: Stephen Endelman – Darsteller: Harvey Keitel (Ray Weiler), Fairuza Balk (Sonya), Kelly Lynch (Valery), Vincent d'Onofrio (Mr. Webster), Elisabeth Moss (Greta) u. a. – Länge: 104 Min. – Farbe – Verleih: Warner Bros. (35mm) – Altersempfehlung: ab 12 J.

Kindheit und Jugend werden oft im Nachhinein verklärt. Manchmal bringt ein Rückblick aber auch leidvolle Erinnerungen ans Licht. So schreibt Sonya in ihrem letzten High-School-Jahr Tagebuch und Kurzgeschichten über ihre Familie und ihre Erlebnisse als kleines Mädchen. Ihr Vater Ray ist ein Hasardeur und davon überzeugt, bald ein reicher Mann zu sein. Kurzfristig überzeugt er seine Geschäftspartner mit windigen Deals, aber am Ende fällt er immer auf die Nase. Seine Frau, die die Familie zusammenhält, stirbt früh an Krebs. Nach dem Tod der Mutter zieht Ray seine Tochter Sonya und deren kleinere Schwester Greta groß, versucht ihnen ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen, glaubt an den "amerikanischen Traum", daran, dass er es doch irgendwann mal schaffen wird. Obgleich er von der Hand in den Mund lebt, meldet er Sonya an einer renommierten High School an, ohne über das nötige Kleingeld zu verfügen.

Sonya gerät immer mehr in die Rolle der Mutter, die sich um alles kümmern muss. Moralische Unterstützung findet sie bei ihrem Englischlehrer, der ihr Schreibtalent erkennt und sie ermutigt, ihre Alltags-Geschichten zu Papier zu bringen, sich nicht entmutigen zu lassen. Sie besteht sogar die Aufnahmeprüfung für die Universität von Berkeley. Doch dann steht Sonya vor einer schwierigen Entscheidung – der Vater muss ins Gefängnis, begeht aber Justizflucht und nimmt die Töchter mit. Da verweigert sie sich zum ersten Mal, riskiert den Bruch mit ihrem Vater und kehrt mit Greta nach Hause zurück. Dort wartet schon die Fürsorge ...

Nach dem Roman von Sheila Ballantyne, die ihre eigene Biografie verarbeitete, inszenierte Anthony Drazan ein Melodram mit leisen Zwischentönen über das Festhalten an familiären Strukturen und deren Zusammenbruch. Auf verschiedenen Zeitebenen (mit Rückblicken in die Kindheit) zeichnet er die Entwicklung des jungen Mädchens zur jungen Frau, den Prozess der Selbstfindung und den beschwerlichen Weg zum Selbstbewusstsein. Gleichzeitig liefert er ein überzeugendes Plädoyer für die Notwendigkeit einer intakten Familie, die – ganz in amerikanischer Tradition – als Hort alles Guten scheint, die Lösung aller Probleme bietet.

Das ist aber auch die Crux des Films, denn der Drang zur Illusion und die Verdrängung der Realität der 60er-Jahre, in denen die Handlung angesiedelt ist, wird manchmal etwas zu dick aufgetragen und nostalgisch verklärt. Damit versöhnt allerdings die Konstellation der Charaktere: Harvey Keitel als Underdog und Produkt der amerikanischen Pflicht zum Erfolg für jedermann, Fairuza Balk unter dem Druck der Anforderung, die Ersatzmutter zu spielen, obgleich sie selbst eine Mutter bitter nötig hätte. Die Charaktere sind nicht eindimensional, sondern in sich widersprüchlich, wecken Sympathie. Der innerliche Kampf eines Mädchens um die Unabhängigkeit vom Vater wird gefühlvoll vermittelt, auch wenn am Ende der unnötige Druck auf die Tränendrüse etwas übertrieben wirkt.

Margret Köhler

 

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