© NFP Guido Cacialli
Produktion: MK2; Frankreich 2012 – Regie und Buch: Olivier Assayas – Kamera: Éric Gautier – Schnitt: Luc Barnier, Mathilde van de Moortel – Darsteller: Clément Métayer (Gilles), Lola Créton (Christine), Félix Armand (Alain), Carole Combes (Laure), India Salvor Menuez (Leslie) u. a. – Länge: 122 Min. – Farbe – FSK: ab 12 J. – Verleih: NFP – Altersempfehlung: ab 16 J.
Ein poetisch-melancholisches Drama über die Kunst und das Leben einer Familie und ein episches und detailgenau erzähltes Biopic über einen Terroristen in Zeiten des gesellschaftlichen Aufbruchs waren die letzten Filme, die Olivier Assayas gedreht hat. Nach "L’heute d’été" und "Carlos" verbindet er nun in dem autobiografisch geprägten "Die wilde Zeit" Elemente dieser beiden Geschichten und erzählt von jugendlichen Rebellen, von gesellschaftlichem Wandel und der Kunst als persönlicher Ausdrucksform.
Noch Jahre nach den Maiunruhen 1968 in Paris liefern sich Polizisten und jugendliche Demonstranten regelrechte Schlachten in den Straßen. An den Schulen treffen sich Debattierclubs. Und wem das Reden nicht mehr reicht, verabredet man sich nachts, um die Wände des Schulgebäudes mit Parolen zu beschmieren und mit Plakaten zu bekleben – so wie Gilles, Alain und Christine. Gilles, der erst vor kurzem von seiner Freundin Laure verlassen wurde und ein talentierter Zeichner ist, verliebt sich schon bald in die idealistische Christine. Als bei einer nächtlichen Aktion ein Wachmann schwer verletzt wird, suchen Gilles, Christine und Alain zunächst in Italien bei Gleichaltrigen Zuflucht, die auch von der Veränderung der Welt träumen. Dabei wird zunehmend deutlich, dass für Christine und viele andere Jugendliche die Kunst allein nicht ausreicht, um die Welt zu verändern. Und auch die jungen Filmemacher innerhalb der Gruppe streiten sich: Sollen ihre Filme nur auf Missverhältnisse aufmerksam machen – oder sollen sie selbst in ihrer Form radikal und revolutionär sein? Wo beginnt die Anpassung? Und wie viel Auflehnung ist nötig? Inmitten all der unterschiedlichen Überzeugungen, zwischen Experimenten mit Drogen und Beziehungen, muss Gilles, der sich zunehmend für das Filmemachen interessiert, seinen eigenen Weg finden.
Im Grunde ist der deutsche Verleihtitel schlecht gewählt. Denn was im Original noch nüchtern "Nach dem Mai" heißt und auf Deutsch in "Die wilde Zeit" umgewandelt wurde, erweist sich als gar nicht so wild. Vielmehr melancholisch und auch ein wenig nostalgisch wirkt der Film stattdessen – eine Rückbesinnung auf die großen Utopien der Jugendlichen zu Beginn der 1970er-Jahre, die 1968 noch zu jung waren und doch selbst die Ideen der enttäuschten Revolution weitertragen wollen und das Leben und die Gesellschaft als Experimentierfeld begreifen. Auch wenn die stetigen politischen Diskussionen, die großen Worte, die intellektuelle Schwere der damaligen Zeit für heutige Jugendliche befremdlich sein mögen, so knüpft der Film doch auch an bekannten Lebenserfahrungen und an Fragen an, die nichts von ihrer Relevanz verloren haben. Die Vorstellung, die Welt zu verbessern, die Suche nach dem Sinn im Leben und die Notwendigkeit, sich festzulegen und einen eigenen Weg zu gehen – all dies spricht Assayas an. So funktioniert "Die wilde Zeit" auf zwei Ebenen: als zeitgeschichtlicher Rückblick, der durch seine atmosphärische Inszenierung Interesse für die 1968er-Bewegung, deren Ziele und Einflüsse wecken kann, sowie als zeitloser Coming-of-Age-Film über Ideale und Identität.
Stefan Stiletto
Inhalt der Print-Ausgabe 135-3/2013
Filmbesprechungen
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