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Ausgabe 68-4/1996

"Ich möchte mit dem Festival die Welt von jungen Leuten vermitteln"

Gespräch mit Claudio Gubitosi, Leiter des Giffoni-Filmfestivals

Interview

KJK: Sie haben vor 26 Jahren das Kinderfilmfestival in Giffoni gegründet und sind seitdem dessen künstlerischer Leiter. Wie war die Situation damals, und was hat sich in diesen Jahren verändert?
Claudio Gubitosi: "Ich hatte die Ehre, an einem Produkt beteiligt zu sein, das damals nicht auf dem italienischen Markt existierte. Zu jener Zeit arbeitete fast ausschließlich die Kirche auf dem Gebiet des Kinderfilms. Man muss einfach eine starke Idee haben und daran glauben. Es ist schon ein bisschen verrückt, in einer kleinen Stadt, die nicht einmal auf allen Landkarten verzeichnet ist, ein Festival zu starten. Heute ist dieses Festival von Giffoni eines der wichtigsten Kinderfilmfestivals überhaupt. In der Startphase hatte ich nicht vorgesehen, ausschließlich Kinderfilme zu zeigen. Ich habe 20 Jahre gebraucht, um mein Konzept zu entwickeln und richtig zu vermitteln. Ich möchte mit dem Festival anderen Menschen die Welt von jungen Leuten vermitteln – und diese ändert sich natürlich auch ständig."

Wie werden die Kinder für die Jury ausgewählt?
"Die Kinderjury gibt es von Anfang an. Ich wollte damit ein Zeichen der Aufmerksamkeit setzen. Natürlich hat sich in diesen Jahren auch die Jury verändert, etwa vom Alter her. Früher waren die Kinder jünger, heute sind sie um die 12 bis 14 Jahre. Sie kommen aus der ganzen Welt, aus mehr als 170 Städten, manchmal aus Orten, in denen es gar kein Kino gibt. Die jungen Jurymitglieder sind als Gäste in Familien untergebracht und somit integriert. Mich erreichen inzwischen Briefe von mindestens 2000 Kindern im Jahr, die am Festival teilnehmen wollen. Zusätzlich werden alle Schulen in der Region angeschrieben. Nach einer Vorauswahl reisen die Organisatoren in die Heimatorte, um die Kinder entsprechend auszuwählen und vorzubereiten. Seit fünf Jahren haben wir auch regelmäßig Taubstumme mit in der Jury."

Nach welchen Kriterien wählen Sie die Filme für den Wettbewerb aus?
"Europäische Filme bildeten bisher den Grundstock. Früher kamen gute Filme vor allem aus dem Iran und natürlich aus Skandinavien. Die Filme in Giffoni müssen nicht unbedingt die besten sein, ich habe mich in allen Fällen aber von ihrer Schönheit leiten lassen. Sie vermitteln alle wirkliche Gefühle und erzählen von fernen Realitäten genauso wie von Alltagsproblemen. Die USA waren lange überhaupt nicht dabei, diesmal sind sie zufälligerweise mit vier Filmen sehr stark vertreten. Seit fünf Jahren gibt es allerdings keine italienischen Filme mehr im Programm."

Woran liegt das, und wie beurteilen Sie denn die Situation des Kinderfilms in Italien?
"Diese Situation ist eine große Schande, denn weder die Regierung noch das Land konnten seit fünf Jahren einen italienischen Kinderfilm präsentieren. Das ist geradezu lächerlich, zumal Italien genau das entsprechende Festival hierfür hat und große Regisseure hervorbrachte. Ich sage hier frei heraus, was ich denke. Es gibt heute keine großen Regisseure mehr, die darüber nachdenken oder bereit wären, einen Kinderfilm zu drehen. Und es gibt hier leider nur große oder schlechte – aber nichts dazwischen. Darüber hinaus gibt es ein grundsätzliches Problem mit der Kultur. Es ist, wie gesagt, eine Schande, dass ein Land mit einem so riesigen Kulturerbe nicht in der Lage ist, dieses an die Kinder zu vermitteln. In diesem Land fürchten viele Regisseure, sich zu blamieren, wenn sie einen Film für Kinder drehen. Darin liegt die Wurzel des Problems.
Das italienische Kino leidet auch unter einer Reihe von Strukturen, in denen es sich von anderen Ländern unterscheidet. Ein Film zum Beispiel, der letztes Jahr im Wettbewerb lief, machte in Frankreich über 16 Mio. DM Umsatz; in Italien floppte er. Filme für Kinder laufen hier nur in 16 Uhr-Vorstellungen; da geht keiner hin."

Hatten Sie bei dieser Kinosituation nicht Schwierigkeiten bei der Finanzierung des Festivals?
"Nein, ökonomische Probleme haben wir nicht. Denn das Festival hat so gut wie nichts mit den Strukturen der italienischen Filmproduktion zu tun. Finanziell werden wir mit 350.000 DM vom Staat und weiteren Zuschüssen aus der Region unterstützt, bei einem Gesamtetat von etwa 1,7 Mio." (PS: Hauptsponsor des Festivals ist die Bank Monte Dei Paschi Di Siena)

Welche Bedeutung hat Giffoni insgesamt für die Film- und Medienerziehung der Kinder in Italien?
"Es gibt in Giffoni und vielen anderen Städten eine gute Filmerziehung an den Schulen. Über solche Aktivitäten könnte sich der Markt entwickeln und umgekehrt wieder Einfluss auf die Filmerziehung nehmen. Immerhin werden von den 14 Filmen des Wettbewerbs acht oder neun bereits weltweit vertrieben. Aber natürlich ist Giffoni in erster Linie ein Festival und keine Institution zur Filmerziehung. Gleichwohl arbeitet das Festival das ganze Jahr über auch in dieser Richtung. Wir haben hier unser eigenes Kino, das auch als Festivalkino dient, wir pflegen die Kontakte zu Schulen in der ganzen Region Kampanien und organisieren hier und in der Region auch zahlreiche Veranstaltungen, wie z. B. das 'Animathon' in Giffoni, ein siebentägiges Cartoon-Festival, an dem mehrere hundert Kinder teilnahmen."

Die 26. Ausgabe des Festivals war sehr erfolgreich. Gibt es da noch Ziele, die Sie sich für die nächsten Jahre gesetzt haben?
"Alles wird sich weiterentwickeln und spezialisieren. Das betrifft auch die Qualität der Filme. Wir planen die Einrichtung einer Filmschule in Giffoni, die Diplome für Kinder vergibt. Eine Kinemathek befindet sich im Aufbau, die das Festival mit seinen Filmen und die Filmgeschichte dokumentieren hilft. Und außerdem bemühen wir uns, die gezeigten Filme auch mehr ins Fernsehen zu bekommen."

Interview: Holger Twele

 

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