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Ausgabe 41-1/1990

ROSALINDS ELEFANT

Produktion: Objektiv Film, Hamburg, im Auftrag des ZDF, BRD 1988 – Regie: Thomas Draeger – Drehbuch: Rudolf Herfurtner – Kamera: Hille Sagel – Schnitt: Gabriele Herms – Musik: Wolfgang Hemm – Darsteller: Katharina Brauren (Großmutter), Inge Flimm (Mutter), Kathrin Schmitt (Edel), Rosemarie Quaiser (Rosalind), Irm Hermann (Hausbesitzerin) u. a. – Laufzeit: 40 Min. – Farbe – Verleih: Matthias-Film (16mm; ab 1.5.1990) – Altersempfehlung: ab 10 J.

Es ist fast Abend, als der Lastwagen in die stille Dorfstraße einbiegt und vor einem einfachen grauen Haus anhält. Der Dorfbürgermeister, zwei Frauen und ein Mädchen steigen aus. Der Bürgermeister stellt der Hausbesitzerin die Ankömmlinge als die eingewiesene Flüchtlingsfamilie aus Schlesien vor, die nun hier wohnen soll. Die Frau ist nicht sehr erfreut über diese Mitteilung und führt die Leute widerwillig auf den Dachboden. Das Mädchen heißt Edeltraud, wird aber von ihrer Großmutter und ihrer Mutter nur "Edel" genannt. Schnell müssen die Flüchtlinge begreifen, dass sie nur als "Gäste" im Haus geduldet werden, was besonders der früher bessere Verhältnisse gewohnten Großmutter schwer fällt. Aber auch Edel hat unter der Situation zu leiden: In der Schule wird sie verspottet, und Freunde findet sie nicht.

Änderung tritt erst ein, als ein kleiner Wanderzirkus mit ein paar Tieren im Dorf Station macht, darunter ein veritabler Elefant mit Namen Sultan. Und vor allem ist Rosalind dabei, die Tochter des Zirkusdirektors. Sie ist Drahtseilartistin, und Edel fühlt sich sofort zu ihr hingezogen. Obwohl Rosalind älter ist als Edel, werden die beiden Mädchen Freundinnen. Irgendwie fühlen sie sich als "Herumtreiber" oder "Zigeuner" verwandt. Eines Tages finden die Mädchen einen alten verlassenen Omnibus, und der bringt die große Wende in das Flüchtlingsleben. Mit Trara und Sultans Hilfe wird der Bus ins Dorf geholt, neben einen alten Schuppen gestellt, und beide Behausungen werden zur neuen, nunmehr eigenen Unterkunft der Familie. Sogar die Großmutter ist nach anfänglichem Zögern begeistert und freut sich über ein neues Stück Heimaterde vor der Tür. Für Edel fällt allerdings die neu beginnende Normalität des Lebens mit einem Abschied zusammen: Der Zirkus muss weiterziehen mit seinen Tieren, seinem freundlichen Impresario – und mit Rosalind. Zur Erinnerung und als Glücksbringer schenkt Edel ihr einen selbst gemachten kleinen Elefantenanhänger an einer Schnur.

Das Schicksal von Edels Familie haben nach dem Krieg unzählige Familien auf diese oder ähnliche Weise erleiden müssen. Insofern hat auch dieser Film eine handlungsübergreifende Zeugnisqualität (wie übrigens auch die drei anderen Filme der Serie), und dennoch erzählt auch er eine anrührende individuelle Geschichte. Deutlich wird die misstrauische oder gar ablehnende Haltung der nach dem Krieg daheim gebliebenen Bevölkerung den Flüchtlingen und Vertriebenen gegenüber, hier personifiziert in der frostigen und bevormundenden Figur der Hausbesitzerin, mit kühler Distanz gespielt von Irm Hermann.

Deutlich werden auch die Integrationsprobleme der Heimatlosen, hier exemplifiziert an der Figur des Mädchens mit dem liebevoll benutzten Namenskürzel Edel. Dass ihr sehnsüchtiger Wunsch nach Freundschaft ausgerechnet durch eine auf andere Art "Heimatlose" erfüllt wird, gibt der Geschichte einen leicht bitter-süßen Unterton, zumal damit die Dauer dieser Freundschaft ziemlich absehbar limitiert ist. Aber diese gezählten Tage des zärtlichen Zusammenseins der beiden so unterschiedlichen Mädchen sind für sie sorglose und fröhliche Tage eines selten erlebten, unbeschwerten Glücks, für Edel eine höchst willkommene Überbrückungshilfe für den Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt.

Thomas Draeger erzählt diese Geschichte mit stiller und liebevoller Anteilnahme und lässt, trotz des als schmerzhaft empfundenen Abschieds der beiden Mädchen voneinander, beim Zuschauer ein Gefühl der Wärme und Zuversicht auf bessere Zeiten zurück.

Bernt Lindner

 

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