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Ausgabe 41-1/1990

"Die Zeit überholt das Denken"

Gespräch mit Helmut Dziuba

(Interview zum Film VERBOTENE LIEBE)

Helmut Dziuba ist Regisseur der Filme (Auswahl): "Als Unku Edes Freundin war" (DDR 1980), "Sabine Kleist, 7 Jahre" (DDR 1982), "Erscheinen Pflicht" (DDR 1984), "Jan auf der Zille" (DDR 1986). Anlass für das Interview war die Fertigstellung seines neuesten Films "Verbotene Liebe".

"Wir Älteren sollten die Jungen nicht nur von uns Vorgedachtes nachvollziehen lassen, müssen ihnen zubilligen, aktiv sein zu wollen, im produktiven Sinne unbequem. Sonst erziehen wir drei Kategorien von Jugendlichen: Die Jasager, die Resignierenden und die ziellos Aggressiven. Durch unseren Film wollen wir den Jugendlichen Mut machen, Anstöße geben zum Nachdenken, zum Widerspruch auch ..." Worte von Helmut Dziuba aus dem Jahr 1984 zur Premiere seines Jugendfilms"Erscheinen Pflicht", der in den DDR-Kinos damals ohne jegliche Werbung eingesetzt wurde, weil er laut 'Neues Deutschland' eine Konfliktgestaltung aufweist, "die kaum zu konstruktivem Handeln motiviert, sondern Verdrossenheit hinterlässt". Im Mittelpunkt dieses Films steht die 15-jährige Tochter eines Bezirksratsvorsitzenden, die nach dem plötzlichen Tod des zu Lebzeiten als Vorbild verehrten Vaters lernt, ihre Umgebung realistischer, auch in ihrer Widersprüchlichkeit, zu erkennen.

Nach der Wende in der DDR wirkt das Zitat von Helmut Dziuba wie ein vorweggenommener Redebeitrag einer der vielen Demonstrationen in der DDR vom November 1989. Andere DEFA-Filme, die in den zurückliegenden Jahren ähnliche Schwierigkeiten hatten wie "Erscheinen Pflicht", sind inzwischen im Fernsehen der DDR gezeigt worden (zum Beispiel "Insel der Schwäne"). Für "Erscheinen Pflicht" gibt es dagegen noch keinen Sendetermin. In der Bundesrepublik wurde der Film von der ARD ausgestrahlt.

KJK: Es hat ja 1984 bei der Premiere viel Zurückhaltung gegenüber dem Film "Erscheinen Pflicht" gegeben. Wie beurteilen Sie heute nach der Wende in der DDR diese Einwände?
Helmut Dziuba: "Der Film ist ja in den letzten Jahren in den Kinos gelaufen, wenn auch gedämpft, und hat so 260.000 bis 270.000 Besucher erreicht. Ich hoffe, dass die Schwierigkeiten, die Sie benannten, jetzt ausgeräumt sind. Eine Beurteilung im Nachhinein ist immer schwierig. Ich könnte jetzt sagen, dass 'Erscheinen Pflicht' die Befindlichkeit unserer Gesellschaft vor drei oder vier Jahren genauso deutlich zum Ausdruck gebracht hat, wie es jetzt die Wende deutlich macht. Denn das Denken in den Köpfen über den Zustand der Gesellschaft hat sich schon in Jahren entwickelt – und Dinge, die in diesem Film erzählt werden, über unsere Jugendlichen und über ihre Befindlichkeiten sowie über die Gesellschaft im Allgemeinen, sind schon damals gedacht worden und haben schon damals die Gemüter erregt: Deshalb auch wurden dem Film von dem einen oder anderen Steine in den Weg gelegt. Ich hoffe, dass der Film nun noch einmal eine breite Öffentlichkeit bekommt."

Als Sie diesen Film gemacht haben, war es noch ein Tabu, die Privilegien von Politikern in Frage zu stellen, jetzt verlassen die Politiker ihre Villen und ziehen um – das ist also Vergangenheit. Sie haben schon über die Schwierigkeiten gesprochen, die Sie hatten, diesen Film ans Publikum zu bringen, aber es gab doch sicher auch bereits Schwierigkeiten, die davor lagen, den Film überhaupt realisieren zu können?
"Das ist schwer, es so absolut zu sagen. Ich habe bei der Entwicklung des Stoffes ja auf zwei Geschichten eines Buches von Gerhard Holtz-Baumert zurück gegriffen – wohl bemerkt ein kleines Bändchen, das damals auch veröffentlicht wurde. Und die gesamte Studio-Öffentlichkeit, angefangen vom Generaldirektor bis zu den Hauptdramaturgen, alle haben immer für diesen Film gestanden, und er wurde auch sofort, nachdem er aufgeschrieben war, in Produktion gegeben. Die Schwierigkeiten kamen erst im Nachhinein, als die abgeschlossene Arbeit in die Öffentlichkeit kam: Denn ein Buch ist ein Buch, das kann man lesen und es zur Seite legen, aber ein Film ist Bild, ist direkte Ansprache und ist Sensibilisierung und ist für ein breites Publikum bestimmt – und dort fingen die Probleme an, wobei ich deutlich sagen muss, dass vom Autor Holtz-Baumert bis zum Filmminister alle für diesen Film gestritten haben. Mittlerweile haben wir ja gelernt, dass es da höhere Mächte gab, aber um den Film ist immer kollektiv gestritten worden, ich war da kein Einzelkämpfer. Es ist ganz wesentlich, dass ich Partner hatte, die für diesen Film eingestanden sind, die damals genau gewusst haben, was dieser Film im Denken alles in Bewegung bringen könnte, aber die Mächte waren doch größer als unser Kollektiv."

Ein weiteres Thema des Films "Erscheinen Pflicht" ist die Vorbildfunktion der Erwachsenen. Das Mädchen in diesem Film verliert ihren Vater und verliert auch den Glauben und das Vertrauen in bestimmte Grundsätze und entwickelt daraus so eine Skepsis gegenüber den Erwachsenen und gegenüber dem Staat. Seit Monaten demonstriert in der DDR eine skeptische Jugend auf den Straßen. Haben Sie mit Ihrem Film etwas thematisiert, was die verantwortlichen Politiker damals nicht sehen wollten oder nicht sehen konnten?
"Damals dachte ich, sie wissen nicht, wie die wirkliche direkte Befindlichkeit der Jugend und auch der Erwachsenen ist. Aus der heutigen Sicht würde ich sagen, sie haben es bewusst verhindert, bewusst behindert zumindest, weil das, was heute auf der Straße von der Jugend ausgesprochen wird, letztendlich in diesem Film angedacht wurde. Die Jugendlichen sollten angeregt werden, über ihre Situation nachzudenken, und der Film sollte Mut machen, danach zu fragen, wie die Entwicklung in unserer Gesellschaft verlaufen ist und was es für Dinge sind, die uns hindern, ehrlich, offen, aber auch kontrovers, alternativ miteinander umzugehen. Der Film sollte der Jugend den Rücken stärken und der älteren Generation zeigen, dass es kein Generationsproblem ist, was unsere Gesellschaft dahin geführt hat, Fehlentwicklungen zu machen. In dem Film 'Erscheinen Pflicht' kommt zum Ausdruck, dass der Weg zum Ideal ein richtiger ist, wenn man das Ideal im Auge behält. 'Erscheinen Pflicht' – das heißt, du sollst Haltung zeigen, versteck dich nicht, zeig, wer du bist und sag deine Meinung, denn nur so kann man Veränderungen bewirken – und das war mir als Thema in einem Jugendfilm sehr wichtig."

Jetzt gibt es in der DDR nach der Wende ganz viele Erwartungen, welche Erwartungen haben Sie ganz persönlich und für Ihre Arbeit?
"Das ist eine schwere Frage. Es kommt darauf an, von welchem Standpunkt aus man Kunst macht oder produziert. Ich habe Kunst immer als einen Auftrag begriffen, sich einzumischen in Dinge. Ich wollte immer teilnehmen an einem Prozess und nicht vorgefertigte Beschlüsse nachvollziehen. Die vorhandenen Bremsen, die wir gerade benannt haben, sie sind scheinbar mit einem Schlag ad acta gelegt. Genauso wie die Kabarettisten Schwierigkeiten haben, auf die Schnelle ein neues Programm zu finden, so kann es die Filmkunst noch viel schwerer haben. Sich in ein Tagesgeschehen einzumischen, ist sicher keine Alternative, dazu sind die Medien jetzt auch bei uns so stark geworden, dass sie sofort reagieren und das wesentlich schneller, als es der Film oder die Filmkunst tun kann.
Wenn ich mir überlege, wie man in der nächsten Zeit arbeiten muss, was für Themen, was für Gefühle, was für Fragen auf den Tisch des Hauses gelegt werden können, muss ich immer davon ausgehen, dass Tabus und Zensur wegfallen – auch die innere Zensur, die jeder einzelne schon in seinem Kopf hatte. Das ist schwierig, man kann sich nicht mehr zurückziehen auf die Frage, kann ich das, ach das darf ich sowieso nicht, also das fällt weg – umso mehr wird die Ehrlichkeit des Künstlers gefragt und die Haltung: Und die müssen einige zumindest wieder gewinnen oder sie müssen es lassen, Kunst zu machen. Ich muss mich auch fragen, ich schließe mich da nicht aus."

Ihr neuester Film "Verbotene Liebe", der jetzt fertig ist, wurde vor der Wende abgenommen und wird nach der Wende in die Kinos kommen. Das ist auch wieder ein Film, der an Tabus rangeht, er erzählt von Liebe zwischen Minderjährigen.
"Es ist eine Weiterentwicklung von 'Erscheinen Pflicht', es ist ein Gegenwartsfilm, der 1984 spielt und der den Versuch unternimmt, die scheinbaren Grenzen und Tabus weiterzufassen. Natürlich gab es dabei wieder Schwierigkeiten, vor der Realisierung und auch dabei, aber wer es ernst meint mit seiner Arbeit, der muss auch für seine Sachen einstehen und kämpfen, da darf man sich nicht in die Ecke stellen. Ich bin froh, dass ich mich damals nach dem Debakel mit 'Erscheinen Pflicht' nicht in die Ecke gestellt habe, sondern versucht habe, wieder neu anzufangen und die Grenzen noch weiter beiseite zu schieben. Die Zeit überholt das Denken. Der Film wurde 1986 aufgeschrieben, wenn er herauskommt, schreiben wir 1990 – und was hat schon allein in den letzten zwei Monaten stattgefunden – trotzdem hat dieser Film auch heute noch oder morgen seinen Sinn, weil die Forderungen an sich selbst, nicht nur an die Gesellschaft, nicht vom Tisch sind."

Mit den Veränderungen verschwinden ja Vorurteile nicht – und um die geht es in dem Film "Verbotene Liebe" ...
"... es geht nicht um Vorurteile allein, diese Liebe ist verboten, weil es den Paragraphen 148 gibt, ein Gesetz über sexuellen Missbrauch von Minderjährigen, über das man im Prinzip nicht zu streiten braucht – streiten muss man sich über das Umfeld: Warum hat eine wahre Liebe außerhalb des Gesetzes, also bis 14 Jahren, Sprachlosigkeit als Antwort. Das wesentliche Thema ist, wie verhält sich die Gesellschaft zu dieser Liebe, und damit werden Fragen gestellt an jeden einzelnen, der das Möglichsein oder Unmöglichsein dieser Liebe beeinflussen kann."

Es wird in der DDR viel über Hemmnisse in der Vergangenheit geredet, wir haben es in diesem Gespräch auch schon getan – und es wird auch versucht, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Würden Sie aus Ihrer nun schon langen Zeit bei der DEFA von über 26 Jahren irgendein Ereignis benennen, wo es für Sie ganz besonders haarig, ganz besonders schwierig war?
"Solche Situationen hat es mehrere gegeben, sie spiegeln auch immer Etappen einer Gesellschaftsentwicklung wider. Diese haarigen Situationen waren auch immer verbunden mit Auseinandersetzungen, wo sich meine Kollegen im Studio nicht versteckt haben. Wenn jetzt äußere Begrenzungen wegfallen, sind Verantwortung, Haltung und Durchstehvermögen des Machers noch mehr gefordert. Ich habe die Hoffnung, dass diese äußeren Begrenzungen nie wieder stattfinden, aber Filmemachen ist teuer, und es wird bei uns genauso wie bei Ihnen einen Auftraggeber geben, der das Geld gibt und der ein Mitspracherecht hat. Es wird so sein, dass auch das verantwortliche Gremium unseres Staates heute, wenn es uns Geld gibt, auch das Mitspracherecht für sich in Anspruch nehmen wird. Inhaltlich wird es ein anderes Staatsgebilde sein, die Meinungen werden vielgestaltiger sein, die zu einer Entscheidung führen. Und dieses Gremium wird demokratischer sein, es wird keine Einzelpersönlichkeit mehr die Macht haben, kollektive Entscheidungen außer Kraft zu setzen – das ist das Wesentliche jetzt. Und nun wollen wir mal sehen, was wir als Macher auf die Leinwand bringen."

Mit Helmut Dziuba sprach Manfred Hobsch

 

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