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Ausgabe 45-1/1991

JESSICA UND DAS RENTIER

PRANCER

Produktion: de Laurentiis Produktion, USA 1990 – Regie: John Hancock – Drehbuch: Greg Taylor – Kamera: Misha Suslov – Musik: Maurice Jarre – Darsteller: Rebecca Harrell (Jessica Riggs), Sam Elliott (John Riggs), John Duda (Steve Riggs), Rutanya Alda (Tante Sara), Cloris Leachman (Mrs. McFarland) – Laufzeit: 100 Minuten – Farbe – FSK: ab 6, ffr. – Verleih: Concorde (35mm) – Altersempfehlung: ab 8 J.

Alle Jahre wieder ... kommt der Weihnachtsfilm: Nicht nur im Kino, sondern auch auf der heimischen Glotze und in der nächstgelegenen Videothek werden Kinder und Erwachsene gleichermaßen eingestimmt auf das Hohe Fest von Konsum und Kitsch. Ein ganz anderer Kinder-Weihnachtsfilm, der ehrlich und doch poetisch was zum Thema zu sagen weiß, ist der Film "Jessica und das Rentier".

Three Dake (Michigan) eine Woche vor dem Fest: Dem Ort geht's schlecht – vor allem den kleinen Farmern wie dem verwitweten Vater von Jessica, der die neunjährige Tochter bei seiner Schwester in Pflege geben will, weil er Angst hat, sie nicht anständig erziehen und ernähren zu können. Jessica hingegen ist ahnungslos und guter Dinge, als sie mit ihrer Freundin von der Schule nach Hause geht. Derweil die beiden noch ernsthaft debattieren, ob's denn den Weihnachtsmann auch wirklich gibt, fällt vor ihnen eines seiner Rentiere aus einer Dekoration über der Straße – Vorbote kommender Ereignisse. Denn auf dem Heimweg trifft Jessica tatsächlich auf ein verwundetes Rentier, das aber sehr schnell wieder verschwindet. Von nun an ist sie davon überzeugt, dass Prancer – so heißt das Rentier des Weihnachtsmannes – ihre Hilfe braucht. Als sie dem Tier wenig später erneut begegnet, da ist ihr Vater bei ihr und sie kann nur in letzter Sekunde verhindern, dass er das Tier erschießt. Bald aber kann sie es dann doch anlocken und pflegt es aufopferungsvoll, natürlich ohne Wissen des Vaters, der ganz andere Sorgen hat. Um das Rentier zu füttern, ist ihr keine Mühe zu viel. Mit List und Hartnäckigkeit bringt sie den Tierarzt zu ihm und arbeitet bei der wunderlichen Mrs. McFarlane, um Geld für Hafer zu erhalten. Sie schreibt dem Weihnachtsmann sogar einen Brief und teilt ihm mit, wo er sein Tier wieder abholen könne.

Der Brief kommt in die Zeitung und Jessica wird zur Lokalheldin. Nun erfährt – leider – auch ihr Vater von der Sache. Aus Geldmangel verkauft er das Tier, aber Jessica und ihr Bruder machen sich im Schneesturm auf, Prancer zu befreien. Dabei wird das Mädchen schwer verletzt und erst jetzt erkennt Vater Riggs, dass ihm an seiner Tochter und ihrem Glück doch mehr liegt, als er dachte. Gemeinsam bringen sie das Tier auf eine Anhöhe im Wald, wo es der Weihnachtsmann abholen kann. Und so hat die energische Kleine erreicht, was sie wollte: Das Rentier kommt zurück zum Weihnachtsmann, und sie kann bei ihrem Vater bleiben und hat also das schönste Weihnachtsgeschenk schon erhalten: Die Liebe ihres Daddys.

Ein wundervoll realistischer, poetischer, komischer und herzerwärmender Film, der die sich anbietenden Klippen des Klischees geschickt zu umschiffen versteht. Das macht zum einen die hervorragende Besetzung: Sam Elliott als eisgrauer, wortkarger und verschlossener Vater und die energiegeladene Rebecca Harrell als Jessica könnten gegensätzlicher nicht sein und ergänzen sich doch in einzigartiger Weise. Star des Gespanns ist aber allemal die kleine Rebecca: Zu pummelig, um als Püppchen durchzugehen, stapft sie durch die verschneite Landschaft und folgt unbeirrbar ihrem einmal gewählten Weg.

Aber auch der mitunter böse und scharfe Witz dieses Films, der sich vor allem aus der realistischen Betrachtung des Weihnachtsrummels speist, sorgt dafür, dass Sentimentalitäten und Weihnachtskitsch erst gar nicht aufkommen: Wenn etwa der Kaufhaus-Weihnachtsmann schon recht genervt reagiert ob der vielen Kinder, die da auf seine Knie springen, derweil er vom Manager angehalten wird, nicht zuviel Zeit auf Einzelne zu verschwenden. Auch die – wunderschöne – verschneite Landschaft (kein Kunstschnee) und die exzellente Kamera, die diese wie auch die Gefühle der Menschen in dichten Bildern einzufangen versteht, trägt zum Gelingen des Films bei. Und gerade die Sequenzen im Wald sind dabei von einer eher düsteren Stimmung, die uns sehr genau das Gefühl vermittelt, das wir nicht nur als Kinder in einem dunklen Wald im Winter haben, und damit entfernt sich der Film weit von den üblichen Bildern weißer Wälder zu Weihnachten.

Wenn auch der Film zum Schluss, bei der Versöhnung von Vater und Tochter, ein wenig auf die Tränendrüse drückt, so verlässt ihn selbst hier nicht sein Gefühl für Realismus. Als Jessica ihren Vater bittet: "Versprich mir, dass alles wieder gut wird", und er antwortet: "Das kann ich nicht", dann ist dies das konsequente Ende eines Weihnachtsfilms, der fernab von Klischee und Konsumrummel ein realistisches Plädoyer für weihnachtliche Poesie ist, welches wir – hoffentlich – auch noch in den kommenden Jahren zum Fest im Kinderkino zu sehen bekommen werden.

Lutz Gräfe

 

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Ausgabe 45-1/1991

 

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