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Ausgabe 45-1/1991

MEIN NAME IST HARLEKIN

MINJA ZAWUT ARLEKIN

Produktion: Belarus-Film-Studio, Sowjetunion 1988 – Regie: Valeri Rybarew – Drehbuch: Valeri Rybarew, Juri Schtscekotschichin, nach dem Theaterstück "Falle 46, Größe 2" von Juri Schtscekotschichin – Kamera: Felix Kutschar – Musik: Marat Kamilow – Darsteller: Oleg Fomin (Harlekin), Swetlana Kopylowa (Lena), Ludmila Gawrilowa (Harlekins Mutter), Wladimir Poshidajew (Der Nachbar) – Laufzeit: 112 Minuten – Farbe – FSK: ab 16, ffr. – Verleih: Twentieth Century Fox (35mm; Original mit Untertiteln

Der Vorort Wagonka nahe Grodno an der litauischen Grenze in der Sowjetunion: Zentrum des Lebens ist für die Jugendlichen aus dem Ort der Bahnhof. Hier fahren die Züge in die große Stadt, den einzigen Ort, an dem Jugendlichen überhaupt etwas geboten wird. Dementsprechend ist Langeweile ein wesentlicher Faktor im Leben der Jugendlichen – auch für die Gruppe "Die Pendler", eine Gang, deren Anführer Andreij heißt, seinen Namen aber hasst und sich nur mit Harlekin anreden lässt. Harlekin und seine Jungs suchen mit allen Mitteln der Langeweile zu entfliehen: Dazu gehören auch Aktionen gegen vermeintliche oder wirkliche Gegner. Da wären zunächst die "Faschisten" – eine mit Hakenkreuzen und Skinheadfrisuren auftretende, konkurrierende Stadt-Gang. Der schlimmste Feind der "Pendler" ist jedoch eine Gruppe von älteren Jugendlichen – die "Geschäftemacher" – mit besten Verbindungen zu Miliz und korrumpierten Teilen des Staatsapparates. Sie haben all das, was die anderen nicht haben: schmucke Klamotten, schöne Autos und was dergleichen Statussymbole in der UdSSR heutzutage sind. Harlekins Gang tobt jedoch auch schon mal ihren Klassenhass am falschen Objekt aus: So wenn sie unter dem Beifall der umstehenden Bürger einem Hippie brutal die Haare abschneiden.

So könnte alles weitergehen, wenn nicht Harlekin eines Tages seine alte Liebe Lena wieder treffen würde, die nunmehr die Geliebte des Chefs der "Geschäftemacher" ist. Und das weniger aus Liebe, sondern weil sie endlich dem Dreck und der Armut entfliehen wollte, die das Leben ihrer früheren Kumpel dominierten. Die beiden kommen wieder zusammen. Das können die "Geschäftemacher" und ihr Boss nicht hinnehmen. Nachdem ein gemieteter Schlägertrupp einen der "Pendler" krankenhausreif geschlagen hat, sind Harlekin und Lena dran: Die "Geschäftemacher" verschleppen sie in einem Auto ins Grüne, wo sie Lena auf brutale Weise vor Harlekin vergewaltigen und dann die beiden allein zurücklassen. Lenas letzte Worte: "Ich will nicht mehr leben. Hier ist alles vergiftet. Ich hasse Dich."

Schonungsloser hat wohl noch kein Jugendfilm aus der UdSSR das Bild einer Gesellschaft gezeigt, die einst antrat, im Sozialismus die Zukunft der Menschheit zu sichern, und die nun dermaßen bankrott ist, dass für einen Großteil ihrer Jugend Hoffnung ein Fremdwort ist. Nicht umsonst wird die einzige Figur, in der noch Hoffnung lebt, als ein etwas weltfremder und versponnener Außenseiter gezeichnet; der Dorfpoet, den Harlekin besucht und der von den glücklichen Tagen spricht, die da kommen werden. Es war denn auch diese schonungslose Offenheit – gerade in der Schlussszene und einer vorherigen Straßenschlacht – die 1988 in der UdSSR eine sehr kontroverse Debatte über diesen Film – und über den Film "Kleine Vera" – provozierte.

Dieser Gangfilm ist meilenweit entfernt von den mystifizierenden Straßenwestern eines Walter Hill – dessen "Straßen in Flammen" der heimliche Hit der "Pendler" ist. Rybarew und seinem Drehbuchautor, eigentlich Jugendredakteur der Moskauer "Literaturnaja Gaseta", ging es erkennbar um ein realistisches Bild heutiger Befindlichkeiten bei großen Teilen der Jugend des Landes. Dass ihnen dieses Porträt auf so eindrucksvolle Weise gelungen ist, verdanken sie nicht zuletzt dem exzellenten Hauptdarsteller Oleg Fomin vom Jugendtheater Riga. In unnachahmlicher Weise verkörpert er die Figur des Harlekin in all ihrer Widersprüchlichkeit.

Orientierungslosigkeit und fehlende Hoffnung treibt die Jugendlichen zu den Gewaltexzessen, die der Film zeigt und die letztlich dazu führen, dass der Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt das einzige zu sein scheint, was noch funktioniert. Durch diese Gesellschaft ohne Zukunft geht Harlekin als Rebell ohne Hoffnung seinen Weg bis zum bitteren Ende, wie einst James Dean. Nur dass James Dean in den USA der 50er noch hoffnungsvoll in eine Zukunft zu blicken vermochte, die es für Harlekin und Millionen andere Jugendliche in der UdSSR wohl nicht mehr gibt. Und Zustände wie die in diesem Film beschriebenen herrschen – betrachtet man neue Filme zu diesen und ähnlichen Themen aus Ungarn, der CSFR oder anderen Ländern des Ostens – in mehr oder minder starken Ausprägungen ja wohl auch andernorts, von den Hochhausghettos beispielsweise in Frankreich mal ganz abgesehen.

So erfreulich es auch stimmt, dass dieser kraftvolle Aufschrei einer ganzen Generation nun auch in unsere Kinos kommt, so traurig ist es doch gleichzeitig, dass eine Mayor-Company wie CentFox ihn mit gerade mal fünf Kopien zeigt und diese auch zuerst ausschließlich in Nordrhein-Westfalen. Dennoch sollte man sich – so möglich – den Film im Kino auf keinen Fall entgehen lassen. Nicht zuletzt, weil er neben seinen filmischen Qualitäten auch eine packende Geschichte zu erzählen hat, die sich wohltuend abhebt vom US-Gehirn-Popcorn-Kino jüngster Machart.

Lutz Gräfe

 

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