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Ausgabe 45-1/1991

DER SOMMER IM CAMP

LOOKING FOR MIRACLES

Produktion: Sullivan Films Inc., Kanada 1989 – Regie: Kevin Sullivan – Drehbuch: Kevin Sullivan, Stuart McLean, nach den gleichnamigen Memoiren von A. E. Hotcher – Kamera: Brian Thomson – Schnitt: James Lahti – Musik: John Welsman – Darsteller: Greg Spottiswood, Zachary Bennett, Joe Flaherty, Patricia Gage, Patricia Phillips, Noah Godfrey u. a. – Laufzeit: 103 Minuten – Farbe – Internationaler Vertrieb: Sullivan Films Distribution Inc., 16 Clarence Sq., Toronto, Ontario M5V IHI – Altersempfehlung: ab 10 J.

Der zehnjährige Sullivan war von klein auf bei Verwandten untergebracht, damit seine Familie die Zeiten der Weltwirtschaftskrise (1935) übersteht. Jetzt hat ihn sein Bruder Ryan am Hals. Für den heißt es aber, einen Job zu finden – egal was. Zwar ist er gerade Jahrgangsbester in der Schule geworden und erhält sogar ein Stipendium, aber es wird nicht reichen. Auf ihm liegt die Verantwortung für die ganze Familie. Noch nicht achtzehn Jahre alt, schafft er es, seinen Chef von sich zu überzeugen, der ihm die Leitung eines Camps mit zehnjährigen Kindern samt Betreuern überträgt. Wohl oder übel nimmt er seinen kleinen Bruder mit.

Ryan wird klar, dass er sich auf ein Pokerspiel eingelassen hat: Einerseits muss er ständig auf der Hut sein, nicht durchschaut zu werden, andererseits steht er unter dem Druck, seine "Fähigkeiten" vor den Kollegen unter Beweis zu stellen. Außer abenteuerlichen Kanufahrten und Indianerspielen sorgt ein anderer Junge für Aufregung im Camp: "Ratte" – so nennt er sich selbst – lässt sich von niemandem etwas vormachen. Dieses explosive Energiebündel erkennt sehr wohl die Schwächen von Ryan und provoziert ihn – ein nicht endender Machtkampf, den Ryan schließlich mit List überwinden möchte, indem er "Ratte" zum Medizinmann macht. Auch Sullivan wird zum Opfer seiner Angriffslust, bis zum Elterntag: Da teilen sie das gleiche Schicksal, sie bekommen beide keinen Besuch. Kaum hat sich alles eingerenkt, kommt Ryans Hochstapelei durch ein Mädchenabenteuer auf und er wird kurzerhand entlassen. Sullivan, der inzwischen selbstständiger geworden ist, rettet seinen Bruder aus der Situation. Ihm selbst bleibt jedoch ein bitteres Erlebnis an seinem Geburtstag nicht erspart, und er läuft davon. Zum ersten Mal ist Ryan wirklich in Sorge um seinen Bruder. Nach langer Suche schließt er Sullivan in seine Arme und begreift, wie wichtig sie füreinander sind.

Ohne spektakulär zu werden, schafft es der Film, die Brisanz sozialer Themen wie Freundschaft, Bruderliebe, die die gesamte Handlung in immer neuen Situationen durchziehen, in reale spannende Erlebnisse einzubetten, so dass der Zuschauer bis zum letzten Moment gebannt dem Geschehen folgt. Dies ist in erster Linie ein Verdienst der ausgezeichnet spielenden jüngeren Darsteller. Drei Hauptdarsteller, drei Charaktere, drei Perspektiven, ein Thema: Jeder hat seine Einsamkeit. Alle drei sind zu früh auf sich selbst gestellt. Ryan, mit 16 Jahren zum Geldverdienen gezwungen, wählt die Flucht nach vorn und pendelt zwischen unfreiwilligem Gewinner und verdutztem Verlierer; Sullivan, klug, sensibel, sehr ängstlich und von klein auf hin- und hergeschubst, sucht einen echten Freund; "Ratte" ist mit allen Wassern gewaschen, er schreit sich mit jedem Wort die Wut über sein Schicksal aus der Seele.

Ryan, Sullivan und "Ratte" werden als Figuren klar umrissen. Allerdings ist die Veränderung ihrer Beziehung manchmal nicht nachvollziehbar. Die Figur des Ryan könnte zugunsten der Rolle Sullivans mehr in den Hintergrund treten, um die Perspektive des jüngeren Bruders gleichwertiger herauszustellen. So besteht die Gefahr, Ryans Elan zu sehr im Sinne des amerikanischen Helden zu deuten. Die Filmmusik gleitet manchmal zu sehr ins kitschig Dramatisierende ab.

Gemeinheit und Schwächen werden nicht moralisch gewertet, sondern bekommen eine eigene Qualität, weil der Zuschauer die Bedrängnis jedes einzelnen kennt. Ohne plakativ zu werden, zeigt der Film, wie schwierig und notwendig es in Krisenzeiten ist, Anerkennung, Liebe und Freundschaft zu gewinnen. Die innere Not und der innere Kampf jedes einzelnen werden offen gezeigt. Insgesamt ist "Sommer im Camp" ein Film voller Überraschungen und dramaturgisch geschickt gesetzter Wendepunkte, der auch Batman-Freaks zu packen versteht und zum Nachdenken und Nachfühlen bewegen kann.

Matthias von Matuschka

 

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Ausgabe 45-1/1991

 

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