Produktion: Cicek Film, Türkei 1991 – Regie: Tunc Basaran – Drehbuch: Tunc Basaran, Ümit Ünal, Kemal Demirel – Kamera: Colin Mounier – Schnitt: Veli Abasli – Musik: Can Kozlu – Darsteller: Rutkay Aziz, Emin Sivas, Serap Aksoy Aysegül Ünsal, Yaman Okay, Özcan Özgür u. a. – Laufzeit: 85 Min. – Farbe – Weltvertrieb: Cicek Film, Filmcilik TIC. ve SAN. Ltd. STI, Billurcu Sk. 25, Taksim, Istanbul, Türkei – Altersempfehlung: ab 8 J.
"Komm, lass uns Freunde sein und einen einfachen Weg finden, indem wir lieben und geliebt werden. Für uns ist diese Welt so vergänglich." Die Worte des türkischen Dichters Yunus Emre stehen am Anfang und sind gleichsam Geleitwort für den autobiografisch geprägten Film des türkischen Regisseurs Tunc Basaran. Mit den Augen des neunjährigen Kemal wird das Zusammenleben unterschiedlichster Menschen in einem alten Istanbuler Haus geschildert. Man schreibt das Jahr 1940, es herrschen Armut und Hunger. Wie ein Engel in dieser Zeit der Not erscheint dem kleinen Jungen die blonde, schöne Feriha, die mit dem sensiblen Senai zusammenlebt – ein Liebespaar, dem auch die Liebe von Kemal gehört. Die Uniform eines Marineoffiziers für Senai, der Probealarm im nächtlichen Istanbul sind Anzeichen für den Krieg in der Ferne, der dennoch eine Bedrohung ist.
Kemals Vater, wegen verbotenen Glücksspiels gelegentlich in Polizeiarrest, führt zu Hause ein strenges Regiment, dem der Sohn wenn möglich aus dem Weg geht. Doch zu Onkel Kerim, einem starken Mann, der Ruhe und Zuversicht ausstrahlt, fühlt sich Kemal hingezogen. In seinem kargen Zimmer hängt eine Landkarte von Italien an der Wand, die der Junge ehrfürchtig und sehnsüchtig betrachtet, ahnt er doch, dass es Onkel Kerim eines Tages dorthin ziehen wird. Und dass Onkel Kerim den Wirbelwind Kemal mit den Worten "Piano Piano Bacaksiz" empfängt – wobei er ihm erklärt, dass das italienische "piano piano" soviel bedeutet wie das türkische "yavas yavas" (langsam, langsam) – erhöht die Glaubwürdigkeit in den Augen des kleinen Strolchs ("Bacaksiz") ungemein. Kerim ist aber auch für die anderen Bewohner des Hauses eine Instanz der Hoffnung, die sich schließlich – in einer märchenhaft anmutenden Szene – erfüllt: Alle haben mitgeholfen, aus einigen wertlosen alten Münzen "echte Goldmünzen" zu machen, und mit dem guten Erlös kann Onkel Kerim jedem den sehnlichsten Wunsch erfüllen. Für Kemal sind das ein Paar richtige, schöne Schuhe.
Diese Szene geht auf eigene Kindheitserlebnisse des Regisseurs zurück: "Meine Familie war sehr patriarchalisch. Als ich eines Tages im Garten Ball spielte, rief mich mein Vater mit strenger Stimme ins Haus. Ich hatte Angst. Er deutete mit den Augen auf die Kommode. Dort lag ein nagelneues Paar Schuhe. Das konnte ich nie vergessen und deshalb habe ich eine ähnliche Szene in den Film aufgenommen." Auch die Szenen im Sommerkino – Filmvorführungen im Freien waren in Istanbul eine beliebte und verbreitete Einrichtung – sind eine Reminiszenz an seine Kindheit. Tuns Basaran: "Ich bin aus dem Istanbuler Viertel Fatih. Meine Kindheit verbrachte ich im damaligen Kinoviertel Sehzadebase. Die Kinos dort waren meine Schule. Oft hat mich mein Lehrer gefragt, wo ich hin wolle und ich habe immer gesagt, 'ins Kino' und bin auf und davon."
Tunc Basaran (Jg. 1938) gehört zur Generation der künstlerisch anspruchsvollen Regisseure des bei uns wenig bekannten türkischen Filmschaffens der Gegenwart. Nach Literaturstudium und Regie-Assistenzen drehte er 1964 seinen ersten eigenen Film ("Überlebenskampf" / "Hayat Kavgasi"). Seine bisher rund 40 Filme handeln meist vom Leben und den Menschen in der Stadt. In dem 1989 entstandenen Film "Lass sie den Drachen nicht erschießen" ("Ucurtmayi vucurtmayi vurmasinlar") schildert er das Leben eines fünfjährigen Jungen in einem Frauengefängnis.
Wie bereits in jenem Film, gelingt es Basaran auch in "Piano piano bacaksiz", Mitgefühl und Verständnis für Menschen in schwierigen Lebenslagen zu schaffen. So ist sein neuer Film nicht nur ein nostalgisch-poetischer Rückblick auf die "Menschen in unserem Haus" ("Evimizin Insanlari" hieß der frühere Titel), sondern das in warmen Farben gezeichnete Bild einer Gemeinschaft voller Sympathie und Liebe, mit einem Hauptdarsteller, der jungen Zuschauern das Mitgehen und die Identifikation leicht macht. Diese Qualitäten des Films wussten auch die Kinder der Jury beim 17. Internationalen Kinderfilmfestival Frankfurt zu schätzen und verliehen ihm einen "Lucas".
Christel Strobel
Filmbesprechungen
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