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Ausgabe 52-4/1992

DIE HONIGKUCKUCKSKINDER

Produktion: Willy Brunner Filmproduktion und Erika Schmidt (Koproduzentin), Bundesrepublik Deutschland 1992 – Regie: Willy Brunner – Buch: Mirjam Pressler, Erika Schmidt, Wilma Horne, Willy Brunner – Kamera: Ivo Krizan – Schnitt: Alexander Rupp – Komponisten und Interpreten der Lieder: Otto Richter, Bernd Witthüser – Szenenmusik: Andreas Köbner – Darsteller: Tina Sauermann (Lena), Anthony Alderman (Efrem), Sashana Peyton (Ajoke), Harald Schreiber (Schmuck), Annette Schmidt-Fischer (Lenas Mutter) u. a. – Länge: 88 Min. – Farbe -FSK: ab 6, ffr. – FBW: wertvoll – Vertrieb: Willy Brunner Filmproduktion, Weißenburger Str. 36, 8000 München 80 – Altersempfehlung: ab 8 J.

In diesem politisch engagierten Film geht es um das Schicksal von Menschen in Not, von Heimatlosen mitten in unserem Land: Asylbewerber, "Illegale", Aussiedler, alleinerziehende Mütter, die Sozialhilfe empfangen – sie alle wohnen im "Hotel Paradies", einem heruntergekommenen Hafensilo. Der Film steigt schon mit dem ersten Bild voll ein. Ein Schild "Landesgrenze" steht im Wald, die Vögel zwitschern, eine bedrohliche Stille herrscht. Mit wenigen Bildern und Szenen werden zügig, präzis und auch spannend verschiedene Handlungsstränge und Dimensionen des Themas aufgefächert: Ein dunkelhäutiges Kind mit einem jungen Mann (der kleine Efrem und sein großer Bruder aus Äthiopien) kriechen aus ihrem Versteck in einem Heuwagen; noch im Vorspann überqueren die beiden zu Fuß den Grenzfluss mit all ihrem Hab und Gut in der Hand in einer Plastiktüte. Kein Wort wird gesprochen, jetzt ruhen die beiden sich einen Moment aus. In diese Stille hinein ein schrilles "Hey! Na los, los, kommt hoch Jungs!". Aus dem Hinterhalt werden sie überfallen und müssen zusehen, wie ihnen Pässe und Geld geraubt werden. Zur Einstimmung ein effektvoller Gegensatz: die beiden Täter, maskiert, von Kopf bis Fuß bekleidet, aggressiv und laut in der Gestik und Stimme; die beiden Opfer, in der Unterhose, regungslos und sprachlos. Schweigend gehen die beiden weiter auf der Landstraße Richtung Hotel Paradies. Dort sitzt Herr Schmuck, der Hotelbesitzer mit seinen zwei Adjutanten und verteilt die Beute seiner dunklen Geschäfte mit den Illegalen. Die drei warten bereits auf die beiden aus Äthiopien, und man ahnt sogleich die Hintergründe des Raubüberfalls.

Auch Lena und ihre Mutter sind auf dem Weg ins Hotel Paradies, das Sozialamt hat sie geschickt – zu Fuß auf den Bahngleisen sehen wir sie das erste Mal. Die Mutter modisch gekleidet, behängt mit Schmuck aus besseren Zeiten, ruft entsetzt beim Anblick des Hotels: "Das ist ja das allerletzte ... da gehe ich auf keinen Fall rein." Lena, die Tochter, mit Walkman, lakonisch und etwas genervt, antwortet: "Wo willst du sonst hin, bitte?" Am Eingang stehen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, ein Mann und eine ganze Kinderschar telefonieren mit Verwandten im Heimatland (in einer fremden Sprache), ein Betrunkener besingt halb ironisch, halb aufdringlich den schönen Mund von Lenas Mutter und das "wunderbare" Hotel Paradies. Alle sind sie angewidert – nur Lena nimmt bereits am Eingang Blickkontakt auf mit Efrem.

"Von all diesen Menschen ohne Heim und ohne Haus" – fremdsprachige und deutschsprachige – "erzählen wir heute", heißt es im ersten Song des Films. Die Songs in diesem Film fungieren wie im Musical als politischer Chor zum Geschehen auf der Filmbühne. Die Erzählerstimme wird aber auch leibhaftig: Zwei Straßenmusikanten sind es, die im Hotel wohnen – wie bunte Papagenos inmitten der ernsten und düsteren Welt der Erwachsenen. Eng und hoffnungslos erscheint diese Welt, und doch ist dies ein Film für und mit Kindern, ein Film, der hoffen lässt. Es sind die Kinder, die für sich und für den Zuschauer aus der Enge der Zimmer und Gänge, aus der Perspektivlosigkeit und Passivität ausbrechen und ein neues Raum- und Zeitgefühl eröffnen. Sie machen Kontakte, gehen auf Entdeckungsreise in und um das Hotel, schmieden Pläne und decken schließlich sogar die Machenschaften von Herrn Schmuck und seinen Handlangern auf. Und wie im Krimi werden hier geheimnisvolle Transaktionen, ein Schiffswrack voller Diebesgut und nächtliche Entdeckungsreisen geboten.

Der Film zeigt nicht die Entwicklungsgeschichte eines einzelnen Kindes. Lena (aus Deutschland) mit einer abweisenden Mutter, der sie sich in ihrer Entdeckungslust entzieht, ist zwar die Hauptfigur, aber der jüngere Efrem (aus Äthiopien) und Ajoke (aus Angola) sind ebenfalls Identifikationsfiguren, und zwar für unterschiedliche Altersgruppen. Der Film ist – getreu seinem politischen Anspruch – eher ein Soziogramm verschiedener Gruppen als ein Psychogramm. So erfahren Kinder etwas über die Not von Asylbewerbern und illegalen Grenzgängern, über die Lebenslage von unterschiedlichen Randgruppen, über Ausbeutung und Rechtlosigkeit, über Schwarzarbeit und Erpressung – und gleichzeitig werden sie unterhalten. Brunner versucht, unterschiedliche Facetten und Schicksale darzustellen und in dieser Fülle geraten einige Charaktere, die beim ersten Auftritt sogleich sozial und moralisch platziert werden, fast zwangsläufig stereotyp. In dem Bestreben, für Kinder auch gesellschaftliche Zusammenhänge zu erhellen, werden einige Kinderdialoge mit zu vielen Erklärungen befrachtet, das klingt gelegentlich altklug und unnatürlich. Man wünscht sich insgesamt mehr Vertrauen in die Aussagekraft von Bildern und Bildsequenzen.

Dies ist eher ein Film zum Diskutieren als zum Träumen. Er kann inhaltlich aufrütteln, kaum aber Projektionen und Assoziationen freisetzen. Der Wille und der Mut zur Klarheit sind die Stärke dieses Films – und zugleich seine Begrenzung. Bei der Premiere auf dem Münchner Filmfest wurde deutlich: Die Kinder waren ganz dabei und reagierten begeistert. Der Film bietet auch Spaß und Spannung, er präsentiert nicht nur ein aktuelles sozialpolitisches Problem. Und es ist ein Familienfilm.

Michaela Ulich

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 53-4/1993 - Film in der Diskussion - "Honigkuckuckskinder"

 

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