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Ausgabe 52-4/1992

HOW ARE THE KIDS?

Menschenrechte und Kinder

Produktion: c.9.i. communication, Belgien 1990 – Regie: Lino Brocka, Rolan Bykov, Jean-Luc Godard, Anne-Marie Miéville, Euzhan Palcy, Ciró Duran, Jerry Lewis – Länge: 52 Min. – Farbe – Verleih: Katholisches Filmwerk, Katholische Medienzentralen (16mm)

How are the kids? – Wie geht's den Kindern? – so lautet der Serientitel für sechs Kurzfilme von je sieben bis elf Minuten Länge, die ein Manifest engagierter Filmemacher für die Rechte der Kinder darstellen. Das Gemeinschaftswerk basiert auf einer Idee von Marie-France Delobel. Inspiriert durch die Charta zum Recht des Kindes, die im Herbst 1990 von den UN-Mitgliedsländern unterzeichnet wurde, gelang es ihr, international renommierte Regisseure aus aller Welt (darunter Jean-Luc Godard und Jerry Lewis) für ein außergewöhnliches Filmprojekt zu gewinnen. Jeder Film sollte für die in der Charta geforderten, doch vielfach missachteten Rechte der Kinder in einem anderen Kontinent plädieren. Bei der Realisierung dieses multinationalen Unternehmens wurden unorthodoxe Wege beschritten. Neben der UNICEF, die das Projekt ermöglichte, beteiligten sich über ein Dutzend Organisationen an der Finanzierung, von der Europäischen Gemeinschaft über das Europaparlament bis hin zum Roten Kreuz. Das Resultat jedenfalls ist höchst bemerkenswert und eine Fortsetzung dieses Modells wäre langfristig für internationale Kinderfilmproduktionen denkbar.

Die kurzen, realistischen Geschichten zeichnen sich durch die unverwechselbare Handschrift der Autoren aus – Einheitlichkeit war weder angestrebt noch hätte sie sich bei den unterschiedlichen Temperamenten der Autoren verwirklichen lassen. Die Kürze der Beiträge und der weitmöglichste Verzicht auf Sprache garantieren eine große Verbreitung. Die Filme sind weder thesenhaft abstrakt noch ästhetisch eintönig und sind somit vielfältig einsetzbar.

Die Beiträge im Einzelnen:

"Oca (7 Jahre) oder Das Recht auf Schutz vor Ausbeutung" ist der Beitrag des im Mai 1991 tödlich verunglückten philippinischen Regisseurs Lino Brocka, der unentwegt in seinen Filmen auf die politischen und wirtschaftlichen Missstände in seinem Land hinwies. Er zeigt Kinderarbeit auf den Philippinen: Hunderte von Kindern werden mit einem Schiff auf das Meer hinausgebracht, wo sie in tiefen Gewässern ohne Sauerstoffgeräte die Fischschwärme in die Netze der Fischer treiben müssen.

In "Liouba (6 Jahre) oder Das Recht auf Liebe" des russischen Regisseurs Rolan Bykov wird das Psychogramm eines verwirrten und überforderten Kindes entworfen, das vor den Misshandlungen durch seine alkoholkranke Mutter ausreißt und sich in den Tod stürzt.

"Die Kindheit der Kunst oder Das Recht auf Erziehung und auf ein Leben ohne Krieg" ist eine sieben Minuten lange Reflexion von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville: In einer vom Bürgerkrieg zerstörten Stadt liest eine junge Frau einem Jungen Passagen aus Victor Hugos "Les Miserables" vor, in denen es um die Legitimität von Gewalt und die Tyrannei der Ideen geht.

"Hassane (2 1/2 Jahre) oder Das Recht auf Leben" erzählt in Form einer musikalischen Ballade die Geschichte einer jungen Mutter aus Niger, die ihren lebensgefährlich erkrankten Sohn ins weit entfernte Hospital nach Niamey bringt und damit gegen die Stammestradition verstößt. Die 1958 auf Martinique geborene Regisseurin Euzhan Palcy wurde bei uns durch ihren ersten Spielfilm "Straße der Negerhütten bekannt.

"Carmelo (15 Jahre) oder Das Recht auf Schutz vor Gewalt" des Kolumbianers Ciró Duran handelt von kriminellen Jugendlichen in den Straßen von Bogota.

"Boy (11 Jahre) oder Das Recht auf Chancengleichheit" von Jerry Lewis zeigt eine scheinbar verkehrte Welt: Ein weißer Junge in den USA muss all die Demütigungen und Kränkungen über sich ergehen lassen, denen sonst die Schwarzen ausgesetzt sind.

Die sechs Filme lassen sich kaum auf einen Nenner bringen, es sei denn, dass sie die Kinder ausschließlich als Objekte von Ausbeutung und Unterdrückung zeigen. Aber auch dann fällt der Beitrag von Godard/Miéville aus dem Rahmen, der eher ein literarischer Essay zum Thema Krieg darstellt und auch als einziger mit Text arbeitet, während alle anderen kaum, oder wie der Film von Jerry Lewis, ohne Sprache auskommen. Entsprechend problematisch erscheinen generelle Einsatzhinweise bzw. Altersempfehlungen. Bei "How are the Kids?" handelt es sich nämlich keineswegs um "Kinderfilme" im herkömmlichen Sinn, die man, bei einer Gesamtdauer von nicht einmal einer Stunde, en bloc und als "Selbstläufer" anbieten kann. Ein derartiges Negativbeispiel der Präsentation bot z. B. das ZDF in seiner "Matinee zum Weltkindertag" am 20. September 1992, wo die Filme als Zugaben zu einem läppischen Programm des Kölner Kinderzirkus Linoluckynelli mit dem Basler Clown Pello gesendet wurden. Als Einführung setzte Clown Pello vor jedem Film ein trauriges Gesicht auf. Über die Reaktionen der konsternierten Eltern und verwirrten Kinder auf die Filmreihe in diesem Rahmen lässt sich hier nur spekulieren, jedenfalls schadet eine solcherart gedankenlose Vorstellung eher den Intentionen der Filme und hinterlässt bestenfalls Ratlosigkeit.

Zwei Beiträge zumindest sind nur unter Vorbehalt für Kinder empfehlenswert, auch wenn es die formal gelungensten Filme der Serie sind: "Liouba" und "Die Kindheit der Kunst". Rolan Bykov, der mit "Die Vogelscheuche" einen der überragenden Jugendfilme der letzten Jahre drehte, zeigt in "Liouba" eine Welt von erschreckender Ausweglosigkeit, die charakteristisch für das "Kino der Perestroika" ist und dessen pessimistische Stimmung den Zustand der russischen Gesellschaft widerspiegelt. Der Film, der mit schockartigen Bilderfolgen beginnt, steigert das Gefühl der Trostlosigkeit kontinuierlich und findet seinen Höhepunkt in einem verzweifelten Spiel des sechsjährigen Mädchens, das sich im Wald an seinen Puppen abreagiert.

Ebenso schwer konsumierbar ist der Essay-Film von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville, die gemeinsam schon so anspruchsvolle Filme wie "Ici et ailleurs" oder "Six fois deux" gedreht haben. Durch seine rigorose Methode und den kontrapunktischen Einsatz von Bild und Ton hält der Film den Zuschauer bewusst auf Distanz. Im Gegensatz zu allen anderen Filmen der Reihe lässt es dieser nicht zu, dass man sich über die geschilderten Zustände empört oder mit den Kindern Mitleid empfindet. Gerade deshalb wird diese kühle Reflexion am meisten Widerspruch bei erwachsenen und bei jugendlichen Zuschauern hervorrufen.

Das "Einsatzalter": ab 16 Jahren", wie es das Katholische Filmwerk bei diesen beiden Filmen empfiehlt, kann also nur als unverbindliche Richtlinie gelten – ebenso wie "ab 14 Jahren" für den kolumbianischen Beitrag, in dem Ciró Duran das Thema seines Sozio-Dramas "Gamin – Die Kinderbanden von Bogota" wieder aufnimmt und mit ebenso reißerischen wie spekulativen Action-Szenen ein Plädoyer für das Recht auf Schutz vor Gewalt formuliert.

Fernand Jung

 

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