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Ausgabe 52-4/1992

DIE ZEITUNGSJUNGEN

NEWSIES / NEWS BOYS

Produktion: Walt Disney Pictures, USA 1992 – Regie: Kenny Ortega – Buch: Bob Tzudiker und Noni White – Kamera: Andrew Laszlo – Schnitt: William Reynolds – Musik: Alan Menken – Liedertexte: Jack Feldman – Choreographie: Kenny Ortega, Peggy Holmes – Darsteller: Christian Bale (Jack Kelly), Bill Pullman (Bryan Denton), Ann-Margret (Medda Larkson), Robert Duvall (Joseph Pulitzer), David Moscow (David Jacobs) u. a. – Länge: 100 Min. Farbe – FSK: ab 6, ffr. – Verleih: Warner (35mm) – Altersempfehlung: ab 10 J.

Es gibt nur wenige Filme, die gleich vom Start weg zwei Originaltitel haben. Dies ist einer davon. Der Grund dafür dürfte sein, dass außerhalb der USA, wo der Begriff "Newsie" laut Slang-Lexikon "ziemlich verbreitet" ist, wohl kaum jemand auf die Idee käme, dahinter einen Zeitungsjungen zu vermuten. Daher wird der Film außerhalb Amerikas als "News Boys" gezeigt, auch wenn es im Original-Dialog und bei allen im Film zu sehenden Schlagzeilen und Aufschriften immer nur um "Newsies" geht.

Und zwar nicht um irgendwelche "Newsies", sondern um die Zeitungsjungen im New York des Jahres 1899. Denn der Wesenskern der im Film erzählten Geschichte beruht auf Tatsachen. Nämlich auf einem Streik der New Yorker Zeitungsjungen gegen den Verleger Joseph Pulitzer, einen der großen "Zeitungszaren", der heute noch bekannt ist als der Stifter des renommierten Pulitzerpreises. William Randolph Hearst, einer der bekanntesten Gegenspieler Pulitzers, wurde von Orson Welles in "Citizen Kane" zu einem Stück Filmgeschichte verfremdet. Der Film "Die Zeitungsjungen" ist in gewisser Weise eine Musical-Version von "Citizen Kane". Aber eben nur in gewisser Weise.

Die Zeitungsjungen sind elternlose Kinder oder Kinder armer Eltern, die in New York ums Überleben kämpfen. Eine der Gruppen von Zeitungsjungen arbeitet für Pulitzers "New York World". Ihr Anführer ist Jack Kelly, ein aus der Besserungsanstalt entlaufener, pfiffiger Junge, der davon träumt, eines Tages als Cowboy über die Prärie zu reiten. Als Pulitzer merkt, dass er weniger Zeitungen verkauft als Hearst, will er seinen Profit steigern, indem er die Verdienstspanne der untersten Stufe der Hierarchie schmälert. Aber Jack Kelly will sich damit nicht zufrieden geben. Mit Hilfe des redegewandten David Jacobs, dem er kurz zuvor den Job als Zeitungsjunge erst verschafft hatte, gelingt es ihm, die Zeitungsjungen zu überreden, die eigenen Interessen hintanzustellen und Pulitzer gemeinsam die Stirn zu zeigen.

Schließlich schließen sich auch andere Gruppen von Zeitungsjungen dem Streik an und legen damit die Zeitungen von Pulitzer und Hearst lahm, die zudem nichts über den Streik berichten. Das tut nur der Journalist Bryan Denton in der Zeitung "The Sun". Aber selbst der wird letztlich mundtot gemacht, indem man ihn als Korrespondent ins Ausland schicken will. Pulitzer höchstpersönlich will Jack Kelly ausschalten, indem er ihm Straffreiheit und festen Lohn zusichert und damit droht, David und dessen Familie könne andernfalls Schaden entstehen. Jack fügt sich ins scheinbar Unvermeidliche. Als aber zwei Schläger unter seinen neuen "Kollegen" Davids Schwester Sarah belästigen und David und dessen kleinen Bruder angreifen, nimmt Jack den Kampf wieder auf. Zusammen mit Denton dringen sie in den Keller von Pulitzers Verlag ein und drucken dort auf der eingelagerten ersten Druckpresse Pulitzers ein Sonderblatt, das vom Streik berichtet und auf die Situation in Waisenhäusern und Besserungsanstalten aufmerksam macht. Bürgermeister Van Wyck und Gouverneur Teddy Roosevelt greifen ein. Pulitzer gibt endlich nach. Roosevelt hat für Jack große Pläne als Gewerkschafter und nimmt ihn in seiner Karosse mit. Natürlich kehrt Jack schon kurze Zeit später zu den Freunden, zur inzwischen verschworenen Gemeinschaft der Zeitungsjungen zurück.

Bestechend an diesem teilweise recht flotten, mitreißenden Film ist, dass er die Jugend als die letzte Rettung aus der Misere propagiert, die selbst die Macht der Presse, die Wahrheit bei Belieben verschweigen zu können, bricht. Wie sich da Tausende von Kindern und Jugendlichen zu einer Revolution gegen die Erwachsenen zusammentun, das hat schon etwas Anrührendes und Hoffnungsfrohes in sich. Überhaupt ist der ganze Film ein Ausbund an Optimismus und schmissiger Musik. Schon die ersten Szenen muten, etwa in den Sprüngen der Tänzer, wie eine um Jahrzehnte rückverlegte "West Side Story" an, und auch sonst gibt es flotte Tanznummern. Doch anders als die "West Side Story", hat die Geschichte der Zeitungsjungen ein harmonisierendes, versöhnliches, volksfesthaftes Ende.

So interessant die Geschichte im Wesenskern auch ist, so sehr stellt sich die Frage, ob dieser Film nicht völlig fernab des Interesses des Kinopublikums liegt. Gewiss, Musicals sind in, und die Musiknummern der Zeitungsjungen sind recht pfiffig choreographiert. Auch das Engagement der Jugend für eine bessere Welt ist honorig und en vogue. Aber irgendwie ist das alles vielleicht eine Spur zu glatt. Es gibt auch im ganzen Film keine ruhige Minute. Schon in der ersten Szene fällt auf, was dann während des Films kaum noch wahrgenommen wird: Die Kamera ist in ständiger Bewegung. Es gibt fast keine ruhige Einstellung. Alles ist Schwenk, Kamerafahrt, Bewegung. Das macht den ganzen Film zu einer Art riesigem Musikvideo. Kenny Ortega, der hier seine erste Spielfilmregie vorlegt, war zuvor unter anderem im Fernsehen und als Choreograph von Musikvideos tätig.

Insgesamt sind "Die Zeitungsjungen" sehenswert. Die Geschichte hat Verve, die Musik Drive. Aber bis auf wenige Momente rührt einen die Geschichte der Zeitungsjungen seltsamerweise weniger an als nach ähnlichem Rezept gestrickte Musicals. Irgendetwas scheint also an der Rechnung nicht ganz aufzugehen, obwohl eigentlich von der Musik bis zu den Darstellern und der Choregraphie alles stimmt. Schade. Vielleicht ist der Film in seiner revolutionären Tendenz einfach um zwei Jahre zu spät gedreht worden. Vielleicht aber interessiert außer "Citizen Kane" das Hinter- und Abgründige am Pressewesen zu wenig, um diesen Film zu einem Erfolg zu machen. Vielleicht ist er aber auch einfach trotz seines äußeren Erscheinungsbildes als Breitwand-Videoclip inhaltlich zu altmodisch, um den Zuschauer in Begeisterungsstürme zu versetzen.

Wolfgang J. Fuchs

 

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