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Ausgabe 52-4/1992

"Ich hasse die Schauspielerei"

Gespräch mit Birger Larsen zu seinem Film "Der große Wagen" ("Karlsvognen")

(Interview zum Film DER GROSSE WAGEN)

Mit 15 Jahren, 1978, hat er in dem Film "Vil du se min smukke navle?" ("Willst du meinen hübschen Nabel sehen?" eine Hauptrolle gespielt (der Film lief in der Retro des dänischen Kinderfilms der Berliner Filmfestspiele 1992). Im letzten Jahr war er mit seinem Spielfilmdebüt "Lass die Eisbären tanzen" beim Kinderfilmfest Berlin (die beiden Erwachsenen-Jurys vergaben dafür Lobende Erwähnungen). "Der große Wagen" ist sein zweiter Spielfilm – die Rede ist von Birger Larsen, Jahrgang 1963. Das Film-Handwerk hat er in der Praxis als Regieassistent bei Bille August und Søren Kragh-Jacobsen gelernt.

Zum Film

Im Planetarium gibt es einen Vortrag über die Sternenbilder am Himmel, es ist das letzte Mal für den 14-jährigen Mattias, den alle nur Tias nennen, und seine zehnjährige Schwester Linda, dass sie mit ihren Freunden zusammen sind. Sie müssen Abschied nehmen, denn sie ziehen mit ihrer alleinstehenden Mutter von Dänemark ins schwedische Smaland. Von ihrer Tante Karla, die schon vor Jahren gestorben ist, haben sie dort ein altes, ein wenig heruntergekommenes und recht eigenartiges Haus geerbt. Seit dem Tod der Tante war das Haus unbewohnt, doch die Mutter hat beschlossen, es wieder wohnlich zu gestalten und ein neues Leben zu beginnen. Der verschrobene Nachbar Torsten, der die verstorbene Tante gut kannte, hilft ihr bei der Arbeit im Haus und im Garten.

Der Umzug von der Großstadt aufs Land bringt etliche Probleme mit sich, obwohl Mattias und Linda schon so einiges gewöhnt sind, denn das ist nicht ihr erster Umzug. Trotzdem ist es recht schwierig, sich in der fremden Umgebung einzuleben – besonders in der Schule: Svempa ist dort der tonangebende Schüler, er ist sogar stärker als der Lehrer und der hat sich offensichtlich mit ihm arrangiert, denn der harte Svempa sorgt für Ordnung in der Klasse. Ausgerechnet mit ihm gerät Mattias in heftige Auseinandersetzungen. Zum Glück hat die neue Heimat auch ihre positiven Seiten: Tias und Linda lernen neue Freunde kennen, und für Linda, die ein wenig gehbehindert ist, geht ein großer Traum in Erfüllung – sie kann reiten lernen. Doch rund um das Haus passieren die mysteriösesten Dinge: Da wird die Keramik-Werkstatt der Mutter zerstört oder die Möbel stehen plötzlich wieder an ihrem alten Platz ...

Ein geradezu klassisches Thema für Kinderfilme: Der Umzug von der Großstadt aufs Land bringt Probleme mit sich, die Kinder müssen die neue Situation meistern und finden dabei nur wenig Unterstützung bei den Erwachsenen. Birger Larsen und sein Autor Ulf Stark verbinden dieses Sujet alter und neuer Freundschaften voller Sehnsucht nach Liebe gekonnt mit Elementen des Thrillers (detektivische Spurensuche) und des Horrorfilms (das unheimliche, alte Haus). Immer wieder wird die Familie durch ein Fernrohr beobachtet, immer wieder taucht vor dem Grundstück ein weißes Auto auf und mehrmals gibt es Angriffe aufs Haus. Von Mal zu Mal werden sie unheimlicher und heftiger, sie leben in Angst und Schrecken: Wie Tias und Linda das Rätsel lösen, ist faszinierend und äußerst spannend, denn Birger Larsen setzt auf einen alten Hitchcock-Trick – Realität ohne Phantasie hat keinen Sinn.

KJK: Sie machen Filme für junge Leute, was fasziniert Sie daran? Sehen Sie eigentlich einen Unterschied zwischen Filmen für Jugendliche und Filmen für Erwachsene?
Birger Larsen: "Ich sehe keinen Unterschied zwischen einem Film für Kinder oder für Erwachsene, es kommt immer auf die Sensibilität an, um einen Film zu verstehen – und das geht bei jungen Leuten meist sehr schnell. Wenn man erwachsen ist, hat man viel mehr Erfahrungen, da kann es sein, dass man Dinge nicht versteht, die die Kinder sofort begreifen – oder auch umgekehrt. Der wichtigste Grund für mich, Filme zu machen, ist die Suche nach guten Geschichten. Für mich selbst sehe ich schon Unterschiede zwischen einem Film für Kinder und einem für Erwachsene, aber das beste, was ich bei einem Film für Erwachsene tun kann, ist es doch, ihn so zu inszenieren, als wäre er für Kinder: Denn dann werden die Filme nicht schwierig und voll gepackt mit Psychologie."

Ihr Film "Der große Wagen" ist eine Mischung aus Horror und Thriller: Haben Kinder und Jugendliche heute schon so viele Erfahrungen, dass sie das verstehen?
"Ich bin davon überzeugt, dass die Kinder ganz schnell begreifen, dass da etwas nicht in Ordnung ist: Wer immer für all das verantwortlich ist, was dort passiert, muss ein böser Mensch sein. Ich will den jungen Leuten mit meinem Film sagen: Wenn du als Heranwachsender Schmerz empfindest, kannst du damit in unterschiedlicher Weise umgehen. Manche verschließen sich, andere werden sehr gewalttätig. Eine Schlange im Briefkasten ist schrecklich, aber in meinem Film wird niemand verletzt. Insofern haben die Elemente der Gewalt in meinem Film nichts mit dem blutrünstigen Horror à la 'The Texas Chain Saw Massacre', die Ursache der Gewalt wird psychologisch begründet: Die Kinder sollen sich diesen alten Mann ansehen und ihn verstehen."

Nach "Lass die Eisbären tanzen" ist dies Ihre zweite Zusammenarbeit mit dem Autor Ulf Stark: Wie kam es dazu?
"Als wir 'Lass die Eisbären tanzen' machten, habe ich das Drehbuch geschrieben. In den Credits steht ein anderer Name, weil es ganz am Anfang eine Drehbuchfassung von ihm gab. Die Zusammenarbeit mit Ulf Stark war ganz hervorragend, er ist immer leicht für neue Ideen zu begeistern und hat keine Probleme damit, wenn etwas verändert wird: Meist macht er dann selbst auch noch ein paar Vorschläge. Und damals habe ich ihn gefragt, woran er gerade arbeitet: Er erzählte mir, dass er eine Geschichte über einen alten Mann schreibt, der von einem Auto beherrscht wird. Für mich war klar, dass ich daraus einen Film machen möchte. Ein Jahr später erschien der Roman in den Buchhandlungen und die Produktionsfirma kaufte die Filmrechte. Ursprünglich handelt die Geschichte von einer schwedischen Familie, die aufs Land zieht. Ich bin aber ein dänischer Regisseur, also wollte ich, dass eine Familie von Dänemark nach Schweden zieht. Das Drehbuch haben wir gemeinsam geschrieben, erst hat er drei Wochen gearbeitet, dann ich drei Wochen, danach hatte wieder jeder zwei Wochen und dann noch einmal eine Woche Zeit. Und zum Schluss sind wir es fünf Tage lang gemeinsam durchgegangen, danach hat er das Drehbuch vollendet. Die siebente Fassung habe ich dann verfilmt."

Das Kinderfilmfest zeigte in diesem Jahr eine Retro mit dänischen Kinderfilmen, mit dabei war auch "Willst du meinen hübschen Nabel sehen?" aus dem Jahr 1978. In diesem Film spielen Sie eine der Hauptrollen, wie wurden Sie entdeckt?
"Søren Kragh-Jacobsen hat rund 400 Kinder getestet, das war damals eine enorm hohe Zahl, aber hatte seinen Hauptdarsteller noch nicht gefunden. Er kam in meine Heimatstadt und hat sich da unter den Kids umgesehen. Da gab es so einen großen Schultag, an dem gefeiert wurde und alle Kinder zusammen waren. Er hat mich gesehen, ich musste Probeaufnahmen machen und er hat mich genommen. Søren Kragh-Jacobsen war sehr berühmt, denn er war verantwortlich für das Jugendprogramm im Fernsehen. Ich war damals 14 Jahre alt, für einen Jungen in diesem Alter hatte das unglaubliche Faszination. Alle sind sehr glücklich und fast immer freundlich. Wenn es Ärger gibt, dann nur für kurze Zeit, denn die Arbeit am Film muss ja weitergehen. Ansonsten wird viel gelacht, es hat mir unheimlichen Spaß gemacht.
Für mich stand auch fest, dass ich unbedingt beim Film arbeiten wollte. Auf gar keinen Fall allerdings als Schauspieler, ich hasse die Schauspielerei, ich wollte Kameramann werden. Nur mit 14 Jahren kann man nicht zur Filmschule gehen, meine Eltern verlangten, dass ich ganz normal weiter zur Schule gehe und meinen Abschluss mache. Zuerst hieß es also bye bye Film, doch als ich 21 Jahre alt war, ging ich zu den Dreharbeiten des Films 'Zappa' und fragte den Regisseur Bille August, ob ich irgendeinen Job im Stab bekommen könnte. Am Anfang sagte er rigoros nein, aber ich ging immer wieder hin, Woche um Woche und habe ihn bekniet, bis ich eine Zusage hatte. In der Produktionsfirma habe ich mich dann hochgearbeitet, vom Kameraassistenten zum Regieassistenten bei Søren Kragh-Jacobsen und Bille August. Und nach einem Aufenthalt in den USA, wo ich Assistent des Regisseurs Arthur Penn bei einer Broadway-Inszenierung war, kam ich nach Dänemark zurück und erhielt die Chance, mit 'Lass die Eisbären tanzen' meinen ersten Film zu drehen."

Viele Filmemacher rund um die Welt absolvieren zuerst ein Studium an einer Filmhochschule und machen danach ihre ersten Filme. Im Gegensatz dazu haben Sie das Filmhandwerk am Drehort gelernt: Was halten Sie von Filmhochschulen?
"Die besten Filmemacher von Bille August bis Søren Kragh-Jacobsen, von Nils Malmros bis Lars von Trier haben niemals eine Filmschule von innen gesehen. Ich denke schon, dass Filmschulen wichtig sind und ich bin traurig, dass ich dort nicht war. Ich habe es versucht, aber sie haben mich nicht genommen. Ich war mächtig stolz, als ich meinen ersten Spielfilm drehen konnte, während Studenten der Filmschule noch an ihren Abschlussfilmen arbeiteten. Eine Filmschule könnte mir nichts über Technik, sondern eher etwas über Filmgeschichte vermitteln. In der Praxis bekommt man eine bestimmte Menge Geld, mit der man den Film drehen muss – und wehe es gelingt nicht und der Film ist nicht erfolgreich: Verspieltheiten haben da keine Chance, es muss einfach funktionieren. Meine Schule waren die Jobs bei der Produktionsfirma von Spielfilmen, es ist ein sehr hartes Business – man muss selbst auch sehr hart sein. Ich weiß nicht, was besser ist, doch ich hatte keine Wahl."

Mit Birger Larsen sprach KJK-Mitarbeiter Manfred Hobsch

 

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