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Ausgabe 57-1/1994

SCHRITTE INS LEBEN

REN ZHI CHU

Produktion: China Children's Film Studio Beijing, VR China 1992 – Regie: Zheng Dong-Tian – Drehbuch: Gu Ying – Kamera: Sun Yong-Tian, Xie Ping – Schnitt: Zhu Hong – Musik: Guo Wen-Jing – Darsteller: Ge Lin, Zhang Li-Wei, Jia Yong-Hong, Zou Ji-Chuan, Meng Nan, Hong Chang – Laufzeit: 90 Minuten – Farbe – Weltvertrieb: China Film Export & Import Corporation (35 mm) – Altersempfehlung: ab 6 J.

Das kleine Städtchen Kunming in der chinesischen Südprovinz Yunnan im Jahre 1917: Die Familie des gerade fünfjährigen Nie Er hat soeben den Vater zu Grabe getragen. Fortan muss die Mutter ihre vier Kinder allein durchs Leben bringen. Keine einfache Aufgabe in jener Zeit. Auch für die Kinder bedeutet das eine einschneidende Veränderung, müssen sie doch fortan neue Pflichten in Haushalt und Familie übernehmen, um die Mutter zu entlasten. Denn der Broterwerb der Mutter ist anstrengend und hart: Sie verkauft selbst zubereitete Arzneimittel, die sie des Nachts fertigt und tagsüber in ihrem Geschäft anbietet. Zwar tun die Nachbarn ihr Möglichstes, um das Schicksal der Familie zu erleichtern, doch Nie Ers Mutter ist zu stolz, die Trinkgelder anzunehmen, die sie ihr geben. Mit dem ersten Schuljahr beginnt auch für den kleinen Nie Er der Ernst des Lebens. Aber in seinem Leben gibt es auch freudvolle Momente. So befreundet er sich mit einem Holzschnitzer, der ihn das Holzflötenspiel lehrt. (Eine Begegnung, die sein ganzes Leben beeinflussen wird, denn Nie Er wurde später berühmter Komponist u. a. der chinesischen Nationalhymne, was der Film im übrigen mit keinem Wort erwähnt). In der Schule findet er nicht nur schnell neue Freunde, er lernt auch, was Gerechtigkeit und Ehrlichkeit bedeuten. Denn als der Klassenrüpel für etwas bestraft wird, das Nie Er und sein Freund taten, schämen sie sich und geben die Tat zu. Ein Vorfall, der Nie Ers Leben retten wird: Zunächst darf er deshalb nicht mit auf die Jungfernfahrt des neuen Fährbootes, als die Mutter ihn dann aber auf Drängen der älteren Geschwister mitnimmt, kommen sie zu spät und der Kleine wird Zeuge, wie das überfüllte Boot sinkt und seinen besten Freund mit in die Tiefe reißt. Wieder einmal muss Nie Er Abschied nehmen.

Parallel zu diesen Ereignissen erzählt der Film die Legende vom großen Rok-Vogel: In einem Dorf opfert sich ein kleiner Junge und verwandelt sich durch eine Wunderquelle auf immer in den großen Rok-Vogel, um das Dorf zu retten. Eine Geschichte, die Nie Er tröstet, wenn es ihm schlecht geht. Und er zeigt, dass ihn all die traurigen und bitteren, aber auch die schönen Erfahrungen reifer und erwachsener gemacht haben. Als in seiner Schule eine neue (für die Familie unbezahlbare) Pfadfinderuniform Pflicht wird, wechselt er aus (erster) eigener Entscheidung die Schule und nimmt dafür einen sehr weiten Weg und natürlich den Prestigeverlust bei seinen Kameraden in Kauf. Das letzte Bild zeigt ihn, wie er seinen ehemaligen Kameraden begegnet und, ihnen entgegen, seinen eigenen Weg geht.

Zhengs Film bewegt sich in einer Tradition chinesischer Kinderfilme, die Geschichten von kleinen Jungen erzählen, die ihre ersten eigenen Schritte ins Leben gehen; wie etwa Wu Zinius Film "Der Kandidat" ("Hou Bu Dui Yuan", 1983), der hierzulande gelegentlich im Fernsehen zu sehen ist. Dabei hält Zheng sehr genau die Balance zwischen Trauer und Freude, Hoffnung und Schmerz. Sein Film beginnt mit einer recht düsteren und beeindruckenden Begräbnissequenz; also in Trauer, und endet mit Nie Ers erster eigener Entscheidung; also der Hoffnung. Obwohl Zheng hier die frühe Kindheit eines der berühmtesten chinesischen Komponisten erzählt, ist das nicht sein Thema. So erfahren wir aus dem Film nichts über sein späteres Leben. Zheng ging es eindeutig weniger um den Prominenten als um ein exemplarisches Kinderschicksal, wie es in China auch heute noch vorstellbar ist, wenn auch nicht unter diesen Bedingungen extremer materieller Not. Überzeugend und eindringlich ist dabei vor allem die geschickte Verschränkung von realer und legendärer Ebene. Denn diese von Zheng selbst erdachte Legende ist eine kommentierende zweite Ebene, die das reale Geschehen begleitet und es beeinflusst. Der handwerklich solide gemachte Film besticht vor allem durch Zhengs Gespür für einprägsame Symbole und Situationen. So stehen bestimmte Gegenstände für bestimmte Phasen in Nie Ers Entwicklung. Eine Wanduhr symbolisiert seine und seiner Geschwister Reifung: Erst wollen sie sich nie von ihr trennen, müssen dann aber einsehen, dass es Situationen gibt, in denen man etwas Geliebtes aufgeben muss, um einen anderen zu retten. So wie es Nie Er am Ende tut, als er auf die Pfadfinderuniform verzichtet, um seiner Mutter noch mehr Entbehrungen zu ersparen.

Eher nebenbei schildert Zheng in seinem dritten Kinderfilm das aus vielen chinesischen Filmen vertraute Gefüge nachbarschaftlicher Solidarität sehr eindringlich und positiv. Gerade im Vergleich zu dem anderen chinesischen Film beim Frankfurter Kinderfilmfestival 1993, "Bande des Herzens", wo das Gefüge nachbarschaftlichen Zusammenhaltes Streit und Zank gewichen ist, fällt dies besonders auf. Für Zheng ist die Veränderung, die ja auch eine Folge der zunehmenden Durchsetzung des Kapitalismus im Lande ist, eine negative Erscheinung, und er will seinem Publikum zeigen, dass in dieser Nachbarschaftsstruktur eine große Kraft stecken kann, von der alle profitieren können. Insofern ist Zhengs Film trotz seines Plädoyers für den eigenen Weg kein Aufruf zur rücksichtslosen Ellenbogenmentalität. Denn der kleine Nie Er geht diesen Weg ja nicht für sich allein, er tut es für andere und er bezieht seine Kraft eben auch aus der Nachbarschaft und Freundschaft zu anderen. Der Film ist ein Appell für Freundschaft, Solidarität und mitmenschliches Verhalten. Und in einer Zeit, in der allseits die Verrohung und Vereinzelung von Kindern und Jugendlichen beklagt wird, hat der Film nicht nur in seiner Heimat eine große Wertigkeit.

Lutz Gräfe

 

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