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Ausgabe 57-1/1994

"Das Gedächtnis ist das Ausgangsmaterial für meine Arbeit"

Gespräch mit Mohamed Malas, Regisseur des Films "Die Nacht – Al Leil, und Nasri Hajjaj, dem palästinensischen Filmjournalisten und Produzenten

(Interview zum Film DIE NACHT – AL LEIL)

KJK: Das palästinensische Filmschaffen ist hierzulande weitgehend unbekannt. Was sind aus Ihrer Sicht die Eigenschaften dieses Filmschaffens?
Nasri Hajjaj: "Wegen der speziellen Situation des palästinensischen Volkes, das über die ganze Welt verstreut ist, gibt es mehr als ein palästinensisches Filmschaffen. Es gibt Filme, die von den verschiedenen Filminstituten der PLO seit den späten Siebziger Jahren produziert werden. Hinzu kommen Filme, die von palästinensischen Filmschaffenden einerseits in den besetzten Gebieten von Palästina und andererseits in Europa hergestellt werden. Jeder der drei Bereiche hat seinen eigenen Charakter.
Die von PLO-Instituten produzierten Filme sind mehrheitlich Dokumentarfilme. Dies liegt daran, dass die Filmschaffenden die politischen Ereignisse festhalten sollten, mit denen das palästinensische Volk seit 1965 konfrontiert ist. Vor 1948 gab es in Palästina ein Filmschaffen, das wie viele andere Bereiche des palästinensischen Lebens durch den Krieg und die Errichtung des israelischen Staates unterbrochen wurde. Eine natürliche Entwicklung der palästinensischen Kultur war nach 1948 nicht möglich; vieles im Bereich von Musik, Theater und Film wurde unterbunden. Nach der Errichtung der PLO wurde man sich in den späten Sechziger Jahren der Bedeutung bewusst, die politischen Ereignisse zu dokumentieren. Deshalb wurde in der PLO eine Filmabteilung eingerichtet. Die wenigen palästinensischen Filmschaffenden begannen wie auch arabische Kollegen, die an der palästinensischen Frage interessiert waren, Dokumentarfilme zu drehen. Wir stellten fest, dass damals auch viele europäische, vor allem französische und deutsche, sowie amerikanische Filmschaffende daran interessiert waren und nach Jordanien und Libanon kamen, dazu gehört Jean-Luc Godard, der 1970 und 1971 zwei Filme über das palästinensische Volk drehte."

Und wie sieht es heute aus?
N.H.: "Zur Zeit gibt es drei Orte, drei offizielle Institute, wo palästinensische Filme hergestellt werden: das palästinensische Filminstitut, die Kulturabteilung der PLO und die Informationsabteilung der PLO. Zurzeit werden nur wenige Filme hergestellt, wir konzentrieren uns aus finanziellen Gründen auf Video. Spielfilme sind sehr selten. Vielleicht hängt das mit der Tatsache zusammen, dass die PLO ihren Hauptsitz in Tunis hat, und dort gibt es keine palästinensische Gemeinschaft. In den letzten Jahren stellten wir eine neue Ära des palästinensischen Filmschaffens in den besetzten Gebieten fest: Verschiedene Autoren, beispielsweise Michel Khleifi, drehten mit finanzieller Unterstützung von europäischen Organisationen."

Mohamed Malas, Ihre beiden Spielfilme "Ahlam el Medina – Träume von der Stadt" und "Al Leil – Die Nacht" blenden zurück in die Geschichte. Warum beschäftigen Sie sich nicht direkt mit der Gegenwart des palästinensischen Volkes?
M.M.: "Ich möchte betonen, dass ich zur Generation von Filmautoren gehöre, die nicht palästinensische, sondern syrische Filme machen wollen. In meinen beiden Spielfilmen beschäftige ich mich mit vergangenen Epochen, weil dies meine Art ist, die Dinge der Gegenwart zu verstehen. Die Gegenwart und die Bedeutung der Gegenwart sind sehr wichtig. Ich bin überzeugt, dass das syrische Kinopublikum versteht, dass ich etwas über die Gegenwart sage, wenn ich mich mit der Vergangenheit beschäftige. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In 'Al Leil' versuche ich die Wurzeln der Probleme zu verstehen und interpretiere die heutige Präsenz von militärischer Macht über den Staatsstreich von damals."

In Ihren Filmen sind Kinder die Zeugen der vergangenen Ereignisse und stehen als Erzähler im Mittelpunkt. Muss in Ihren Augen ein Film von dieser sichtbar persönlichen Perspektive ausgehen, will er bedeutend sein?
M.M.: "Ich will keine allgemein gültige Antwort geben; ich kann nur für mich selbst antworten. Als ich mich nach einem Sujet für meinen ersten Film umsah, wollte ich etwas wählen, was ich sehr gut kenne. Ich benützte meine eigenen Erinnerungen als Quelle, mit der ich ein Thema strukturierte, das alles andere als persönlich ist. So wählte ich aus meiner Erinnerung Ereignisse und Geschichten aus, die nicht nur für mich, sondern auch für das Kinopublikum ganz allgemein interessant sein würden. Das Gedächtnis, ob es mein Gedächtnis ist oder ob es Erinnerungen von anderen Menschen sind, ist das Ausgangsmaterial für meine Arbeit."

Der Anfang und das Ende Ihres Films bringen in konzentrierter Weise Bilder zusammen, die ich als Ikonen Ihrer Heimat bezeichnen würde. Möchten Sie mit Ihrer Filmarbeit dazu beitragen, diese Ikonen, die aus der traditionellen palästinensischen und arabischen Kultur gewachsen sind, zu erhalten und weiterzuentwickeln?
M.M.: "Als syrischer Filmemacher, der in dieser Gesellschaft lebt, bin ich auch ein Teil von ihr. Sicher gibt es in dieser Gesellschaft Dinge, die ich nicht mag und andere, die ich behalten möchte. Gegenüber Dingen, die ich nicht mag, werde ich sarkastisch, damit das Publikum versuchen wird, sie zu ändern. Mit meiner Arbeit als Filmautor möchte ich eine Fähigkeit aufbauen, mit der ich meine syrische und arabische Kultur verändern und weiterentwickeln kann."

Interview: Robert Richter

 

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