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Ausgabe 94-2/2003

LONG WALK HOME

RABBIT PROOF FENCE

LONG WALK HOME

Produktion: Rumbalara Films / Olsen Levy Productions; Australien 2002 – Regie: Phillip Noyce – Drehbuch: Christine Olsen, nach dem Buch "Follow The Rabbit Proof Fence" von Doris Pilkington Garimara – Kamera: Christopher Doyle, Brad Shield – Schnitt: Veronika Jenet, John Scott – Musik: Peter Gabriel – Darsteller: Everlyn Sampi (Molly), Tianna Sansbury (Daisy), Laura Monaghan (Gracie), David Gulpilil (Moodoo), Kenneth Branagh (Mr. A. O. Neville) – Länge: 94 Min. – Farbe – Verleih: Arsenal – Altersempfehlung: ab 12 J.

1989 sorgte der Australier Phillip Noyce mit seinem kleinen, aber ungemein spannenden Thriller "Todesstille" für einiges Aufsehen. Danach ging er nach Hollywood, wo er mit Star-Filmen wie "Die Stunde der Patrioten" und "Das Kartell" schnell in die erste Liga aufstieg. Jetzt hat er sich – noch vor seiner Graham Greene-Verfilmung "The Quiet American" – einem sperrigen und in seiner Heimat lange tabuisierten Thema gewidmet und daraus einen kleinen Film gedreht, der mehr wie eine frühe Arbeit seines Landsmanns Peter Weir wirkt.

Australien 1931: Die vierzehnjährige Molly, ihre achtjährige Schwester Daisy und die zehnjährige Cousine Gracie leben in Jigalong am Rande der Gibson-Wüste. Sie sind Kinder des No. 1 Rabbit Proof Fence, den weiße Wanderarbeiter quer durch die Wüste zogen, um der von Weißen importierten Kaninchen Herr zu werden. Nach getaner Arbeit verließen sie die Gegend und die Aborigine-Mütter blieben mit den "Mischlingskindern" zurück. Diese sind das Objekt der Fürsorge von A. O. Neville, dem Chief Protector of Aborigines in Westaustralien, der an ihnen seine Rassenpolitik exekutiert. Er lässt die Kinder abholen, steckt sie in von Nonnen geführte Internate, wo sie zu niederen Bediensteten erzogen werden sollen. Sein Ziel ist es, aus den Nachkommen dieser Kinder Weiße zu machen. Auch die drei Mädchen aus Jigalong werden Opfer dieses rassistischen Größenwahns. Doch lange halten sie es in dem Internat nicht aus. Sie fliehen in die Wüste und machen sich entlang des Rabbit Proof Fence auf einen beschwerlichen und gefährlichen Heimweg, immer verfolgt von Moodoo, dem Aborigine-Fährtensucher im Dienste der weißen Herren.

Dies ist eine wahre Geschichte. Es ist erstaunlich, wie sich die Politik der Weißen allüberall gleicht. Vor 14 Jahren erzählte Bruce Pittmans kanadischer Film "Wo ich Zuhause bin" / "Where The Spirit Lives" von der Verschleppung der kanadischen Indianerkinder in weiße Internate, wo ihnen ihr indianisches Bewusstsein mit allen Mitteln ausgetrieben werden sollte. Diese Internate existierten bis in die späten 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Das Gesetz, das es den australischen Behörden erlaubte, den Kindern der Aborigines Gleiches anzutun, wurde nur etwa ein Jahrzehnt früher für ungültig erklärt.

Noyce hat sich in Inszenierung, Bildsprache und Tempo bewusst auf das mythische Weltbild und die Lebensart der Aborigines eingelassen. So erzählt er bewusst langsam vom Leben am Rand der Wüste, wo die Ureinwohner wie Bettler in einem Camp leben; gezwungen ihr nomadisches Leben aufzugeben, sind sie auf die Almosen der Weißen angewiesen. So ist der Zaun Segen und Fluch zugleich. Der zwingt sie, ihre traditionelle Lebensweise zu vergessen, ihre Kinder werden Opfer der weißen Herren; er führt aber eben diese zurück zu ihren Müttern. Übrigens nur zeitweise. Zwar endet der Film mit der glücklichen Heimkehr zweier der drei Kinder, doch Neville und Co. geben nicht auf. Molly wird Jahre später wieder verschleppt und muss bei der erneuten Flucht eine ihrer inzwischen zwei Töchter zurücklassen: Doris, die sie erst 30 Jahre später wiedersehen wird und deren 1996 erschienenes Buch dem Film zu Grunde liegt. Drei Jahre nach Mollys Flucht verschleppt man ihre zweite Tochter Annabelle, Molly hat sie nie wieder gesehen.

Noyce findet in seinem Film überwältigende Bilder für die Menschen in der Landschaft und erzählt damit ganz filmisch von der Verbundenheit der Ureinwohner mit ihrer Welt. Die Langsamkeit im Erzähltempo – entsprechend deren Lebensweise – zieht sich allerdings für den westlichen Zuschauer durchaus in die Länge, weil auf dramatische Zuspitzungen weitgehend verzichtet wird, dafür wirken die wenigen dramatischen Momente umso stärker. Auch Peter Gabriels hypnotisch-schwebende Musik als Ausdruck für die Traum- und Mythenwelt der Ureinwohner sorgt für einen intensiven, aber gewöhnungsbedürftigen Film, auf den man sich bewusst einlassen muss.

Natürlich ist der Film in seiner Heimat – wo das Thema des Umgangs zwischen Weißen und Ureinwohnern immer noch ein sensibles ist – von immenser politisch-kultureller Bedeutung, thematisiert er doch offen wie selten zuvor im Kino weißen Rassismus und gegen Ende sogar so etwas wie den Widerstand der Ureinwohner. Seine Parteinahme ist dabei von ähnlicher Entschiedenheit wie die seines kanadischen Filmemacher-Kollegen Bruce Pittman oder der australischen Rockband "Midnight Oil", die sich schon seit Jahren für die Rechte der Ureinwohner engagieren. Dabei macht Noyce es sich nicht einfach, denn sein von Branagh brillant verkörperter Neville ist kein simpler faschistoider Finsterbold, sondern ein Mann mit einer (wenn auch rassistischen) Mission.

Lutz Gräfe

 

Bundesverband Jugend und Film e.V.LONG WALK HOME im Katalog der BJF-Clubfilmothek unseres Online-Partners Bundesverband Jugend und Film e.V.

 

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