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Ausgabe 94-2/2003

"Wir sitzen im selben Boot – und das Boot sinkt"

Gespräch mit Omri Levy, Regisseur, Co-Autor und Co-Produzent des israelischen Spielfilms "Miss Entebbe"

(Interview zum Film MISS ENTEBBE)

KJK: Als am 27. Juni 1976 eine Air France-Maschine auf ihrem Flug von Tel Aviv nach Paris durch ein Palästinenser-Kommando nach Entebbe entführt wurde, waren Sie noch keine sechs Jahre alt. Warum lassen Sie Ihren ersten Spielfilm nicht in der Gegenwart spielen?
Omri Levy: "Indem wir die Entebbe-Geschichte aus der zeitlichen Distanz überblicken können, vergegenwärtigen wir uns die heutige Situation und wagen zugleich einen vorsichtigen Blick in die Zukunft. Es entsteht dabei ein Bewusstsein für die Dauer jener gewaltsamen und für beide Seiten – die der Palästinenser in den besetzten Gebieten und die der Israelis – lebensgefährlichen Auseinandersetzung; man realisiert, dass der Konflikt nach fast 30 Jahren immer noch nicht gelöst ist, dass er vielmehr weiterhin eskaliert. Im letzten Jahr gab es ja andauernd Terroranschläge, immer neue Selbstmord-Attentate – und es ist schon ein seltsames Gefühl, wenn auf dem Weg zur Arbeit genau vor dir ein Bus in die Luft fliegt oder fünf Minuten, nachdem du ausgestiegen bist, explodiert. Immer, wenn so etwas passierte, war etwas in meinem Inneren froh – froh ist vielleicht das falsche Wort –, aber etwas in mir war glücklich, genau diesen Film zu machen. Weil ich eben nicht glaube, dass es ihr Fehler ist oder der unsere. Ich denke: Wir sitzen beide im selben Boot und das Boot sinkt. Und wenn wir uns nicht gegenseitig helfen, gehen wir beide unter. Vielleicht zeigt dieser Film ja einen klitzekleinen Weg, eine naive Hoffnung, wie man vielleicht doch aus dieser Situation herauskommen kann. Ich meine, der Film ist kein politisches Pamphlet, er erzählt nicht von zwei Nationen, sondern von zwei 14-jährigen Kindern."

Er erzählt von dem jüdischen Mädchen Noa und dem aus Rache gekidnapten Palästinenserjungen Naim, die – verstörend genug – zueinander Vertrauen fassen und an der Gewalt-Spirale nicht weiter drehen. Doch eigentlich dreht sich die ganze Geschichte nur um das Mädchen, oder?
"Ja, an ihrem Beispiel wollte ich zeigen, wie hart es ist, erwachsen zu werden – noch dazu an einem Ort, wo man schneller erwachsen wird als anderswo. Wo Krieg herrscht, hört die Kindheit eben sehr, sehr früh auf, verliert man ganz schnell seine Unschuld."

Gab es Schwierigkeiten bei diesem Thema?
"Wenn Sie an Zensur denken, nein. Es ist ja auch in dem Sinne kein politischer Film, sondern – da bin ich mir ganz sicher – ein moralischer, ein menschlicher, den sich die Palästinenser ebenso angucken können wie die Israelis. Der Film zeigt zwei Welten, die beide mit dem Mädchen verbunden sind. Einmal ihre häusliche, ihre Schwierigkeiten in der Familie, mit der Mutter besonders, und dann die Palästinenser-Israeli-Welt mit der Flugzeugentführung und der Entführung des arabischen Jungen – man erhält also Einblick in die politische Situation und sieht gleichzeitig, wie Menschen mit ganz spezifischen Problemen darin agieren."

Sie haben in Ihrem Film auch Dokumentaraufnahmen verwendet. Ging das so ohne weiteres?
"Das war kein Problem. Wir haben das Material im Archiv des israelischen Fernsehens gefunden und durften es für den Film verwenden."

Wie sind die Bedingungen für einen jungen Filmemacher in Israel?
"Es grenzt schon an Selbstmord, bei uns einen Film machen zu wollen, weil Israel ein sehr kleines Land ist. Fast unmöglich, das Geld aufzutreiben. In unserem Fall hat es vier Jahre gedauert, und ich habe zusammen mit zwei anderen Absolventen der Sam Spiegel Film and Television School in Jerusalem eigens dafür eine Produktionsfirma gegründet. Am Ende standen uns dann 350.000 Dollar zur Verfügung, was ein Witz ist. Man merkt das ja auch an der Ausstattung, aber wir mussten eben mit dem auskommen, was wir hatten. Für die Dreharbeiten hatten wir dreißig Tage, vom Schreiben bis zur Fertigstellung haben wir dreieinhalb Jahre gebraucht."

Stand der Titel von Anfang an fest?
"Nicht sofort – aber weil der Film vom Erwachsenwerden eines Mädchens erzählt, schien uns das eine gute Wahl. 'Miss Entebbe' ist auch ein Begriff aus der Geschichte."

Wieso?
"Weil im gleichen Jahr – also 1976 – eine junge Frau aus Israel Schönheitskönigin wurde. Und niemand nannte sie Miss Universum, alle Welt sprach nur von Miss oder Mistress Entebbe, weil die Erinnerung an die Flugzeugentführung und die spektakuläre Rettung damals bei jedem präsent war."

Wo haben Sie die 14-jährige Merav Abrahami, Ihre phantastische "Miss Entebbe", gefunden?
"Wir sind in Jerusalem von Schule zu Schule gezogen, haben Hunderte von Mädchen gefilmt. Ich sah sie während des Unterrichts und sie hat meinen Blick auf sich gezogen, weil an ihr etwas ist, das man nicht wieder vergisst. Sie ist sehr intelligent und auch reif – ich denke, sie hat ihr Charisma in die Rolle eingebracht und durch ihre Interpretation die Rolle des Mädchens noch aufgewertet."

War es ihre erste Rolle?
"Ja. An Film hat sie nie gedacht, obwohl sie an einem Gymnasium mit dem Schwerpunkt Kunst die Theaterklasse besucht. Alle Kinder in diesem Film haben noch nie gedreht. Der palästinensische Junge zum Beispiel spielt Fußball, ich sah ihn beim Spielen. Aber sein Vater ist Schauspieler."

Was steckt von Ihnen selbst in der Geschichte?
"Alles – die Beziehungen innerhalb der Familie, die politische Situation. Ich kenne eigentlich alles in diesem Film, weiß aus eigener Erfahrung, wovon ich erzähle. Die Auflehnung gegen die eigene Familie ist immer eine traumatische Angelegenheit und es ist wirklich schwer, in unserem Land erwachsen zu werden."

Haben Sie selbst so gekämpft wie Noa?
"Nein, das kann man nicht sagen. Ich war eher ein braves Kind."

Das einzige?
"Nein, wir waren vier Jungen, kein Mädchen, und ich bin Nummer drei. Ich bin gar nicht in Israel, sondern wurde 1970 in Berkeley in Kalifornien geboren. Damals hatten meine Eltern gerade in Amerika zu tun, aber seit ich zwei bin, lebe ich in Jerusalem. Mein Vater ist Professor an der Hebrew Universität in Jerusalem, meine Mutter arbeitet im Erziehungs-Ministerium. Sie ist verantwortlich für die Ausbildung der Literatur-Lehrer in Israel. Auch meine Eltern wurden in Israel geboren, aber meine Großeltern sind 1939 aus Polen emigriert."

Und wie sind Sie zum Film gekommen?
"Nach meinem Militärdienst bewarb ich mich bei der Sam Spiegel Film and Television School, die 1989 von der Jerusalem Foundation und dem Ministerium für Erziehung und Kultur gerade in meiner Heimatstadt gegründet worden war. Ich studierte dort von 1992 bis 1997. Für meinen Abschlussfilm 'Bedouin Sand', einem Kurzfilm, bekam ich 1998 auf dem Internationalen Filmfestival in Jerusalem, aber auch auf Kurzfilm-Festivals in Linz, in Dresden und München Preise bzw. Lobende Erwähnungen. Danach habe ich eine Fernseh-Serie über ein Mädchen gemacht, das nicht spricht. Im Rahmen des Prix Jeunesse wurde sie 2000 in München gezeigt und hat dort auch einen Preis bekommen; zurzeit läuft sie unter dem Titel 'Kinnerets Schweigen' im Kinderkanal." (Die Serie wurde in 13 Folgen vom 21.12.2002 bis zum 15.3.2003 ausgestrahlt.)

Was bedeutet Ihnen der Erfolg hier in Berlin?
"Es ist eine große Ehre. Schon, dass wir hier sein konnten, war großartig. Zumal wir erst im letzten Augenblick fertig geworden sind. Die endgültige Fassung haben wir sozusagen im Handgepäck mitgebracht. Jetzt hoffe ich, dass der Film auch in die Kinos kommt, erst mal in Israel und dann auch in Deutschland."

Mit Omri Levy sprach Uta Beth

 

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