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Ausgabe 119-3/2009

DAS WEISSE BAND

DAS WEISSE BAND

Produktion: X Filme Creative Pool, Berlin / Wega Film, Wien / Les Films du Losange, Paris / Lucky Red, Rom; Deutschland / Österreich / Frankreich / Italien 2009 – Regie und Buch: Michael Haneke – Kamera: Christian Berger – Schnitt: Monika Willi – Darsteller: Christian Friedel (Lehrer), Leonie Benesch (Eva), Ulrich Tukur (Gutsherr), Ursina Lardi (seine Frau), Burghart Klaussner (Pfarrer), Steffi Kühnert (seine Frau), Josef Bierbichler (Verwalter), Rainer Böck (Arzt), Susanne Lothar (Hebamme) u. a. – Länge: 145 Min. – schwarz-weiß – Verleih: X-Verleih – Altersempfehlung: ab 14 J.

Er ist der Analyst des Bösen, legt den Finger auf die Wunde und lässt uns keine Ausflucht, keine Möglichkeit zum "Weggucken", "Wegducken" oder "Weglaufen". Michael Hanekes Filme tun einfach weh, fordern Abwehr heraus und führen doch zu einer schmerzhaften Auseinandersetzung. Neben der Kafka-Verfilmung "Das Schloss" ist dies der einzige Film des in München geborenen Österreichers, der nicht in der Gegenwart spielt. Es ist das Jahr 1913/14. Ein Dorf im protestantischen Norden Deutschlands am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Friedlich schauen sie aus, die wogenden Kornfelder, über die Wolken ziehen. Eine Idylle. Auf den ersten Blick jedenfalls. Irgendwie wirkt das Ganze wie die trügerische Ruhe vor dem Sturm. Seltsame Vorfälle bringen das Dorfleben durcheinander und erinnern an rituelle Bestrafungen – der Dorfarzt bleibt mit seinem Pferd an einem gespannten Seil hängen und wird verletzt, eine Arbeiterin stirbt bei einem tödlichen Unfall, ein Junge wird verprügelt, ein geistig behindertes Kind gequält, dazu kommen Brandstiftung und ein Selbstmord. Niemand redet offen über die alltäglichen Grausamkeiten, es gilt, die Form im steifen Gehrock zu wahren. Das Böse kommt hier nicht plötzlich, sondern nach und nach.

Erzählt wird die Geschichte aus dem Off, vom alten Dorflehrer (Stimme: Ernst Jacobi). Haneke, Gewaltforscher des Kinos par excellence, demonstriert in technisch brillantem, entschärftem Schwarz-Weiß die emotionalen Eruptionen struktureller Gewalt und den Verlust von Unschuld, nur dem flüchtigen Anschein nach weniger brutal und offensiv als in "Die Klavierspielerin" oder "Funny Games". Die wilhelminische Gesellschaft erstickt an ihren Regeln und ihrer Rigidität, alles hat seine Ordnung, die Trennung sozialer Schichten, die Gefühlskälte, die alltäglichen Demütigungen in dysfunktionalen Familien, in denen Kinder die Hand der Eltern küssen oder weiße Bänder tragen müssen als Zeichen der Reinheit. Da ist der respektierte Gutsherr, der seine Position schamlos ausnutzt, der selbstgerechte Pastor, der sich um seine Gläubigen aufopferungsvoll kümmert, aber zu Hause die Kinder drakonisch bestraft, der Arzt, der Patienten verständnisvoll behandelt und die Hebamme und Geliebte wie ein Stück Vieh. Und die von den Werten ihrer Eltern geprägten Kinder strafen wiederum diejenigen ab, die nicht mit dem ihnen oktroyierten Ideal übereinstimmen. Kinder ohne Kindheit, nur selten ein Lächeln auf ihren Gesichtern.

Unter einer Decke des Schweigens wachsen Neurosen, Hass und Zwang. "Das weiße Band" ist ein Abgesang auf eine Gesellschaft, die auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs verschwand, und eine Generation, die unter Hitler als Schergen aufstieg. Auch wenn der Regisseur keine spezifische Beziehung zwischen seinem Film und dem Faschismus ziehen möchte und auf Allgemeingültigkeit pocht, die Saat des Bösen ging auf, der Untertanengeist fand seine Entsprechung in der Nazi-Diktatur. Haneke ist ein perfektionistischer Künstler, der nichts dem Zufall überlässt und hier in klassisch narrativer Form ein bis aufs kleinste Detail genaues Zeit- und Sittengemälde zeichnet mit den von ihm gewohnten dunklen Untertönen. Die "Goldene Palme" in Cannes: ein gerechtfertigter Preis für ein verstörendes und beklemmendes Meisterwerk.

Margret Köhler

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 119-3/2009 - Interview - "Inspiriert haben uns die Schwarz-Weiß-Fotos der Zeit, wir suchten zeitgenössische Gesichter"

 

Bundesverband Jugend und Film e.V.DAS WEISSE BAND im Katalog der BJF-Clubfilmothek unseres Online-Partners Bundesverband Jugend und Film e.V.

 

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Ausgabe 119-3/2009

 

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Interviews

Elliot, Adam - "Alles in allem stecken in diesem Film fünf Jahre meines Lebens"| Haneke, Michael - "Inspiriert haben uns die Schwarz-Weiß-Fotos der Zeit, wir suchten zeitgenössische Gesichter"| Kappler, Petra - "Wir sehen die Zeichen der Zeit"| Sommer, Gudrun und Petra Schmitz - "Wir wollen möglichst viele Kinder erreichen"| Tasdiken, Atalay - "Alles, was in dem kleinen Dorf in Anatolien passiert, wird durch die Tradition, die Hierarchie und nicht durch das Gesetz bestimmt"|

Hintergrundartikel

LIPPELS TRAUM – 2008|


KJK-Ausgabe 119/2009

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