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Ausgabe 120-4/2009

"Wir haben es so gemacht und es ging"

Gespräch mit André F. Nebe, Regisseur von "Das große Rennen"

(Interview zum Film DAS GROSSE RENNEN)

KJK: Worin unterscheidet sich Ihr Film von anderen aktuellen Kinderfilmen? Was ist das Besondere daran?
André F. Nebe: "Das Besondere an diesem Film ist die Tatsache, dass er sich sowohl an Kinder als auch an ihre Eltern richtet. Wir versuchen, im besten Sinn Familienfilmunterhaltung zu machen. Wenn ich mich umschaue, lässt sich eine Tendenz klar erkennen: Entweder man macht Filme mit Kindern, wo Kinder mitspielen, die aber mehr für Erwachsene sind, oder Filme nur für Kinder, wo sich Erwachsene manchmal sogar peinlich berührt vorkommen, zumindest ratlos sind. Ein Beispiel ist 'Die wilden Kerle', eine tolle Produktion, die bei Kindern super ankommt, aber als Erwachsener ist man mitunter ein bisschen irritiert."

Wie kam es denn zu Ihrem Film?
"Die Idee stammt von einem Freund, der auch in meiner Firma arbeitet (gemeint ist Drehbuchautor Rowan O’Neill), der aus einem irischen Dorf stammt, sich an seine eigene Kindheit dort erinnerte und eine Geschichte über ein Mädchen schreiben wollte, das Rennfahrerin werden möchte. Für die konservative irische Gesellschaft ist es immer noch ein Novum, dass eine Frau eine Männerdomäne erobert. Ich habe ihn ermuntert, das zu schreiben. Wir sind dann ab der vierten Drehbuchversion, die wir für vorzeigbar hielten, auf Partnersuche gegangen. Insgesamt hat das drei Jahre gedauert."

Hatten Sie Bedenken, Ihren ersten Kinofilm im Ausland und noch dazu in englischer Sprache und mit Kindern zu drehen?
"Keine Bedenken, sondern den Wunsch! Man könnte daraus ein Politikum machen, denn es wird immer beklagt, Talente im Filmbereich hätten die Tendenz abzuwandern, nachdem sie erfolgreiche Produktionen gemacht haben. Ich bin, glaube ich, der erste, der nicht einmal in Deutschland anfängt. Das hatte einen ganz klaren Grund: Wir wollten von Anfang an eine Geschichte erzählen, die man auf der ganzen Welt verstehen kann, auch in sprachlicher Hinsicht, und die einen universellen internationalen Charakter hat. Das war unser Anliegen. Der Autor kommt ohnehin aus Irland und auch in unserer Firma sprechen wir fast nur englisch."

Das hat doch sicher auch mit den besseren Marktchancen für englischsprachige Filme zu tun?
"Wie gesagt, ein englischer Film kann überall gesehen und verstanden werden. Auch auf den Festivals, wo der Film zurzeit läuft, gibt es keine Probleme. Schon schwieriger ist es, einen deutschsprachigen Film überhaupt aus dem Land herauszubekommen. Man sieht das auch an den skandinavischen Filmen, dort werden zwar ganz viele Kinderfilme gedreht, aber man bekommt das oft gar nicht richtig mit."

Nach den Erfahrungen mit diesem Film: Würden Sie wieder in Irland drehen?
"Ja, denn als Regisseur hat man ein recht praktisches Verhältnis zum Filmen. Man arbeitet dort, wo man seine Filme machen kann. In Irland hatte ich ein professionelles Team."

Wie haben Sie die Hauptdarstellerin gefunden?

"Es gab von der Casting-Agentur eine Vorauswahl aus etwa 300 bis 400 Mädchen. Ich bin erst dazugekommen, als wir eine Endauswahl von circa 30 Personen hatten. Zum Schluss waren es nur noch vier. Ich habe mir sehr viel Zeit gelassen und etliche Kandidaten ein zweites Mal eingeladen. Letztlich war die Entscheidung gefühlsmäßig schon länger klar, denn obwohl Niamh noch nie vor der Kamera gestanden hat, strahlte sie eine große Natürlichkeit aus."

Eigentlich erzählt der Film mindestens zwei Geschichten, die von Mary und die ihrer Mutter. War diese Parallelgeschichte von Anfang an geplant?
"Ja, beide Figuren gehören unbedingt zusammen. Die Mutter fasst ja erst den Mut, diesen schwierigen Schritt aus ihrem Dilemma heraus zu tun, nachdem sie gemerkt hat, dass ihre Tochter ganz zielstrebig ihr Ziel verfolgt, nicht aufgibt und sich nicht aus dem Gleichgewicht bringen lässt. Das inspiriert sie, letzen Endes lernen Mutter und Tochter voneinander. Die Mutterfigur ist natürlich sehr kontrovers angelegt. Sie ist das Salz in der dramaturgischen Filmsuppe, denn sonst wäre das erstens nicht mehr zeitgemäß und zweitens hätte es mich nicht so herausgefordert. Denn ich fand es besonders spannend, die Mutter so zu inszenieren, dass man sie versteht und mag und dass man auch sieht, wie schwer es ihr fällt, die Familie zu verlassen. Dieses Element war also von Anfang an drin und sollte auch drin bleiben. Natürlich gab es Leute – mit denen wir dann nicht zusammengearbeitet haben – die meinten, die Mutter müsse zurück in die Familie, das ginge so doch nicht. Wir haben es so gemacht und es ging."

Trotzdem noch konkreter: Warum haben Sie auf ein Happy End verzichtet?
"Man hört und liest viel darüber, dass Eltern nur wegen der Kinder zusammenbleiben, wenn Leidenschaft und Liebe längst vorbei sind. Ich finde diese Verhaltensweise nachvollziehbar und auch nicht zu kritisieren. In unserer Zeit ist sie aber nicht mehr so häufig anzutreffen wie eine Generation früher. Heute neigen die Leute eher dazu, die Reißleine zu ziehen, wenn sie merken, das ist nur noch ein Aushalten und kein Leben mehr. Wir wollten diesen Aspekt, den wir in unseren Bekanntenkreisen und in der Gesellschaft insgesamt wahrnehmen, auch drin haben, denn das ist eine Realität, mit der viele Kinder heute zu tun haben. Fast jede zweite Ehe wird geschieden und viele Kinder leben inzwischen in Patchworkfamilien, so ist die Realität."

Das Thema Mobbing spielt in Marys Klasse eine ziemlich große Rolle. Ist das realistisch für die Schulsituation in Nordirland?
"Wir wollten zeigen, dass sich eine Außenseiterin durch ihre Fähigkeiten Respekt verschafft. Der Autor hat mir erzählt, dass das in seiner Kindheit Ende der 80er-Jahre genauso gewesen ist. Bei den landnahen kleineren Städten hat nur die nächstgrößere Stadt eine Schule. Dort mischen sich dann die Stadtkinder und die Landkinder und es kommt zu Reibereien zwischen diesen beiden Gruppen. Ob das heute immer noch in diesem Ausmaß geschieht, kann ich selber gar nicht so genau sagen, obwohl wir Recherchen gemacht haben. Beim Mobbing wird nicht alles bekannt, was geschieht. Ich habe mich hier auf den Autor verlassen, der den Gegensatz zwischen Stadtkindern und Landkindern stark herausgearbeitet wissen wollte. Man kann das auch ganz unterschiedlich sehen und sagen, ach Gott wie schrecklich. Die Art und Weise wie Mary und Tom damit umgehen, hat zwar etwas Resignatives, zugleich ist es eine spielerische Art des Umgangs damit. Sie schließen Wetten ab, wie sie den Spießrutenlauf bestehen werden, und finden einen Weg, damit klar zu kommen. Ich habe trotz alledem nicht das Gefühl, das sei eine Schule, in die sie sich kaum trauen, hineinzugehen. Sie nehmen den Kampf auf, nehmen ihn manchmal auch hin, aber sie geben ihn auf keinen Fall auf."

Sind heutige Kinderfilme also meistens zu harmlos und gehen an der sozialen Realität von Kindern vorbei?
"Ich bin der Meinung, wenn man Kinder ernst nehmen will – und das muss man, wenn man Filme für Kinder drehen will – heißt das nicht notwendigerweise, dass daraus ein ernster Film wird. Wenn Kinder ins Kino gehen, sagen sie immer dasselbe: Der Film muss lustig und spannend sein. Das hört sich wie ein nivellierendes Unterhaltungsdiktat an, ist es aber nicht. Wenn man diese Erwartungshaltung berücksichtigt, kann man alle möglichen Themen im Film aufgreifen, Themen, die die Kinder in ihrem Alltag beschäftigen. Aber man kann auch einen anderen Ansatz fahren und sagen, das wollen sie vielleicht nicht auch noch im Kino sehen. Ich finde beide Ansätze legitim. Heutige Kinderfilme in Deutschland weisen manchmal die Tendenz auf, dass sie ein bisschen zu harmlos sind. Einen frechen Kinderfilm zu machen, in dem auch einmal unkorrekte Dinge passieren, mit Charakteren wie im wirklichen Leben, die nicht immer nur gut oder nur schlecht sind, das ist eine Sache, die ich tatsächlich ein bisschen vermisse. Ich sehe mich allerdings auch nicht im Sozialproblemfilm, sondern möchte Geschichten erzählen für Menschen, die sich freuen, eine solche Geschichte zu hören, die durch eine schöne Geschichte – so meine naive Vorstellung – vielleicht auch zu besseren Menschen werden. Sie haben zumindest eine Alternative bekommen, wie man sich verhalten kann, wie man leben, seine Probleme meistern und Haltung einnehmen kann. Das ist eine schwierige Kiste, denn in Deutschland sind vor allem Adaptionen erfolgreich. Bei Finanzierungsgesprächen ist immer wieder als Vorwurf oder als Erfordernis zu hören, es müsse eine Buchadaption sein. Das ist aber nur in Deutschland so. In Skandinavien oder in Dänemark gibt es hin und wieder eine Buchadaption, aber meistens sind das Originalstoffe. Es ist immer auch die Haltung, die man dazu einnimmt. Es gibt harmlose Filme und Filme eher für Erwachsene, es fehlt aber an Filmen, die ein bisschen unkorrekt, auch politisch unkorrekt sind. Es fehlt auch ein bisschen an Filmen, die einfach nur Spaß machen, die Kindern zwei Stunden richtig Freude bereiten. Allerdings ist es so schlimm auch wieder nicht. Wir können froh sein, dass wir in Deutschland im Jahr zwei bis vier Kinderfilme oder noch mehr haben, die von der Qualität her vergleichsweise alle gut sind, das ist auch eine Geschmacksfrage."

Was wünschen Sie sich denn für die Zukunft des Kinderfilms?
"Ich würde mir wünschen, dass angesichts des derzeitigen Booms an Kinderfilmen – sie zählen zu den erfolgreichsten Filmen, die derzeit in Deutschland hergestellt werden – ein paar Leute von der Filmförderungsanstalt den Mut aufbringen, diese Richtung weiter zu fördern und höhere Budgets einzuräumen. Ein Kinderfilm dauert immer länger, denn Kinder dürfen arbeitszeitmäßig nur begrenzt eingesetzt werden. Ich wünsche mir auch frechere Stoffe und mehr internationale Koproduktionen. Ich vermisse auch die Fortsetzung der Tradition des DEFA-Kinderfilms. In der damaligen DDR wurden jedes Jahr ein halbes Dutzend Kinderfilme hergestellt, Filme, die man heute noch gut anschauen kann. Da ist ein bisschen an Tradition und Wissen verloren gegangen, das ist schade."

Wird auch Ihr nächster Film ein Kinder- oder Jugendfilm sein?
"Ich hoffe das. Ich habe inzwischen eine Kinderbuchreihe geschrieben, 'Die Geisterreiter', eine Mischung aus Bullerbü und Indiana Jones, die wohl 2010 herauskommt. Das macht mir wahnsinnig viel Spaß und es erinnert mich auch an meine eigene Kindheit. Das gibt es auch nicht so oft, denn viele Kollegen machen Kinderfilme nur dann, wenn sich nichts anderes bietet. Ich hoffe, dass das nächste Projekt auch wieder ein Kinderfilm wird, vielleicht auch einer, der noch ein bisschen schneller ist, noch mehr Abenteuer und Action hat, darauf hätte ich Lust."

Mit André F. Nebe sprach Holger Twele

 

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KJK-Ausgabe 120/2009

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