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Ausgabe 126-2/2011

DER KINDHEITSERFINDER

HADIKDUK HAPNIMI

Produktion: Libretto Films – Norma Productions; Israel 2010 – Regie: Nir Bergman – Buch: Nir Bergman, nach dem Roman "Der Kindheitserfinder" von David Grossman – Kamera: Biniamin Nimrod Chiram – Schnitt: Einat Glaser-Zarhin – Musik: Ondrej Soukup – Darsteller: Roee Elsberg (Aaron), Orly Zilbershatz (Hinda), Yehuda Almagor (Mosche), Yael Sgerski (Jochi), Rivka Gur (Mamtschu), Evelyn Kaplun (Edna Blum), Limor Goldstein (Frau Smitanka), Rony Tal (Jaeli) u. a. – Länge: 107 Min. – Farbe – Weltvertrieb: Films Boutique, Berlin, Telefon: 030-69537850, e-mail: info@filmsboutique.com – Altersempfehlung: ab 14 J.

Bergmans Film, der auf dem gleichnamigen Roman des prämiierten Autors David Grossman basiert, steckt voller Symbolik. Sein Held, der phantasiebegabte elfjährige Aaron Kleinfeld, wächst im Israel der Sechzigerjahre in einer sprichwörtlichen Kleinbürgerhölle auf. Seine Eltern, zwei Holocaust-Überlebende, raten ihm vom Beruf des Künstlers oder Intellektuellen ab, weil solche Leute ein Lager nicht bewältigen könnten. Der Sohn soll sich dagegen seine lebenstüchtigen Eltern zum Vorbild nehmen. Aaron sieht vor sich nur zwei gefühlskalte Klötze. Mutter Hinda wacht, bewaffnet mit Putzlappen und rauem Befehlston, über die Reinheit der Familie. Als das verstopfte Klo überläuft, stellt sie, eine Damenbinde hochhaltend, Aarons Schwester als Übeltäterin vor allen bloß. Schamlos zerrt sie alles Persönliche ans Licht, und in jedem Selbstausdruck erspäht sie das Zügellose, das unbarmherzig beseitigt werden muss. Da ist es kein Wunder, wenn sich Aarons körperliche Reifung verzögert.

Zwei Jahre später: Das wohlgeordnete Leben der Familie Kleinfeld gerät aus den Fugen. Edna Blum beauftragt den Vater, bei ihr eine Wand herauszureißen. Die kultivierte, ätherische Nachbarin, die Klavier spielt und Essen in gediegenem Service aufträgt, ist das blanke Gegenteil der Mutter. Ihre Wohnung ist auch für Aaron seit langem ein Zufluchtsort, zu dem er sich in ihrer Abwesenheit frech Zutritt verschafft. Frau Kleinfeld wittert zu Recht eine Gefahr in der attraktiven Nebenbuhlerin. Alsbald hat die ganze Familie die fremde Wohnung okkupiert, überwacht den Vater bei seinem Tun. In diesem grotesken Szenario serviert Edna Blum Tage später ungerührt dem Vater zwischen Trümmern stilvoll das Essen und tut so, als sei das das Normalste von der Welt. Für die Verwirklichung ihrer Sehnsucht nach einer Beziehung nimmt sie schließlich sogar die materielle Vernichtung ihrer Existenz in Kauf.

In die destruktive Romanze webt Bergman, abweichend vom Roman, als Parallelhandlung das Scheitern von Aarons erster Liebe und dessen allmähliche Zerrüttung ein – er markiert damit die ähnliche Konstitution beider Figuren. Aarons Wunsch, möglichst unbeschadet aus dem Spießerwahnsinn auszubrechen, zieht sich durch den Film. Er spitzt sich in der Schlussszene zu: Von allen verlassen, schließt sich der Held auf freiem Feld in einen Kühlschrank, Symbol für emotionale Kälte schlechthin, ein. Die Kamera schwenkt über die Landschaft und es bleibt offen, ob er sich befreien kann.

Obwohl der Film bei der Berlinale in der Reihe Generation Kplus lief, dürfte er sich vor allem doch eher an ein erwachsenes Publikum richten. In der Exposition werden assoziativ Ereignisse rasch aneinander montiert, welche die klebrige, stickige Atmosphäre und Aarons Fluchtversuche bebildern. Es fällt schwer, den roten Faden zu entwirren. Schnell könnte sich ein Gefühl von Langeweile einstellen. Dass die Geschichte nicht zuletzt als kritische Anspielung auf die israelische Gesellschaft zu verstehen ist – ein Opfer wird Täter, wenn Hinda die senile Großmutter in ein Pflegeheim abtransportieren lässt; der Traum vom Miteinander wird bezahlt mit der verleugneten Selbstzerstörung –, macht es einem jungen Zuschauer nicht eben leichter. Auch die Tragikomik in Edna Blums Verhalten dürfte sich eher dem Erwachsenen erschließen. Bergman findet ausdrucksstarke Bilder für die Enge und für Aarons innere Not, die er durch das Sound Design noch zu steigern vermag. Doch es stellt sich die Frage, ob sich auch Jugendliche davon faszinieren lassen.

Heidi Strobel

 

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Ausgabe 126-2/2011

 

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