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Ausgabe 66-2/1996

KIDS

Produktion: Independent Pictures / The Guys Upstairs Prod., USA 1995 – Buch: Harmony Korine – Regie: Larry Clark – Kamera: Eric Alan Edwards – Schnitt: Chris Tellefsen – Musik: Lou Barlow & John Davis – Darsteller: Leo Fitzpatrick (Telly), Justin Pierce (Casper), Chloe Sevigny (Jennie), Sajan Bhagat (Paul), Billy Valdez (Stanly), Billy Waldman (Zack) u. a. – Länge: 93 Min. – Farbe – Verleih: Senator Film (35 mm) – FSK: ab 16 J.

Sie stehlen, vergewaltigen und brechen ein. Sie nehmen Drogen und schlagen einen Mann zusammen. Sie durchstreifen die Mainstreets der City und dealen am Washington Square, gleich neben dem Kinderspielplatz. Doch sie sind keine Schwerverbrecher, keine Schläger, sondern ganz normale Kids – Kids, wie es sie überall auf der Welt gibt. Heranwachsende, die ständig an Sex denken, die einen ganz normalen Sommertag in New York City erleben. "Kids" beschreibt einen Tag aus ihrem Leben.

Skateboard-Freak Telly hat es auf jungfräuliche Mädchen abgesehen. Er weiß nicht, dass er Aids hat. Mit seinem Freund Casper zieht er durch die Gegend. Sie treffen sich mit anderen Jungs, kiffen und reden über Mädchen. Diese hocken bei Ruby zusammen und auch sie reden über Sex. Jennie erzählt, dass sie von Telly entjungfert wurde. Jennie und Ruby haben sich auf Aids testen lassen. Ruby, die schon mit mehreren Jungs ungeschützt schlief, ist HIV-negativ. Jennie aber, die bislang nur mit Telly zusammen war, ist positiv. Sie bricht auf, um ihn zu suchen. Doch Telly ist bereits unterwegs zu der 13-jährigen Darcy, seiner nächsten Eroberung. Später treffen sie alle in einer sturmfreien Bude in Manhattan zusammen. Sex, Drogen und Alkohol. Jennie kann nicht verhindern, dass Telly mit Darcy schläft. Sie betrinkt sich, schläft ein. In diesem Zustand wird sie von Casper vergewaltigt. Ein neuer Morgen in Manhatten bricht an.

"Kids" ist ein impulsiver, irritierender Film, der keine Tabus kennt, aber auch keine voyeuristischen Blicke erlaubt. Larry Clarks semidokumentarische Kurzzeitbeobachtung zeigt nicht die Jugend von heute, sondern nur einen Ausschnitt aus einer großstädtischen Jugendszene und ihrer Alltagsrealität. Eine andere Welt, wie etwa die der Erwachsenen, existiert nicht. Die jüngeren Kids machen es den großen nach und suchen Anschluss. Niemand greift ein; niemand kümmert sich um sie.

"Kids" ist auch ein Film über Aids. Jennie, die ihr Leben noch vor sich hat, ist HIV-positiv. Und anders als beispielsweise in dem Jugendfilm "Mississippi – Fluss der Hoffnung", der das Thema behutsam und melodramatisch angeht, oder in "Philadelphia", wo diese Situation erwachsenen- und konsumgerecht in erlesenem Ambiente und zu klassischer Musik zelebriert wird, bleibt die Jennie in "Kids" verdreckt, missbraucht und allein gelassen zurück. Bei "Kids" gibt es kein Drumherumgerede, keine Stars, keine schön geschliffenen Dialoge und kein edles Production-Design, das "Oscar"-verdächtig ist. Der Film wurde kontrovers aufgenommen; er provoziert und ist unbequem. Das ist gut so. Und gerade deswegen eignet er sich auch für eine pädagogisch motivierte Jugendfilmarbeit, da er bei Jugendlichen Betroffenheit auslöst, das Thema aus ihrer Sicht angeht und ausreichend Stoff zur Diskussion bietet. Erwachsene haben vielleicht ihre Probleme damit, sich auf den Film einzulassen und ihn mit Jugendlichen gemeinsam zu sehen bzw. darüber zu reden. Aber wer Jugendliche ernst nimmt, sollte "Kids" auf sich nehmen.

Regisseur Larry Clark, Jahrgang 1943, hat bereits in seinen autobiografischen Bildbänden "Tulsa" und "Teenage Lust" die Schönheit und Verlorenheit der Jugend hautnah festgehalten. Auch bei "Kids" setzt er auf Realität. Das Buch schrieb der 19-jährige Harmony Korine, ein begnadeter Storyerzähler, den Clark beim Skateboard kennen lernte. Um die Authentizität der Geschichte zu wahren, besetzte Clark einige der Hauptrollen mit den Kids vom Central Park.

Produziert wurde der Film von Gus van Sant, der u. a. bei "Drugstore Cowboy" (mit Matt Dillon und Kelly Lynch) und "My Private Idaho" (mit River Phoenix und Keanu Reeves) Regie führte und heute bereits in nordamerikanischen Jugendszenen einen Kultfilmer-Status besitzt. Larry Clarks wildes Außenseiterleben diente Gus van Sant übrigens als Vorbild für "Drugstore Cowboy".

Horst Schäfer

 

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Ausgabe 66-2/1996

 

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