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Ausgabe 66-2/1996

UNTER DEM MAULBEERBAUM

ETZ HADOMIM TAFUS

Produktion: Eitan Evan & Yaacov Agmon & Gila Almagor / H.S.A. Ltd.; Israel 1994 – Regie: Eli Cohen – Buch: Gila Almagor, Eyal Sher, nach dem gleichnamigen Roman von Gila Almagor – Kamera: David Gurfinkel – Schnitt: Danny Shik – Musik: Benny Nagari – Darsteller: Kaipo Cohen, Juliano Mer, Gila Almagor, Riki Blich, Orli Perl – Länge: 102 Min. – Farbe – Weltvertrieb: CURB Ent. I.C., 3907 West Alameda Av., Burbank CA 91505, USA, Tel. 001-818-843 8580, Fax 001-818-566 1719 – Altersempfehlung: ab 12 J.

"Unter dem Maulbeerbaum" (1994) ist nach "Aviyas Sommer" (1988) der zweite Film, den Eli Cohen nach einem autobiografischen Roman von Gila Almagor drehte. Almagor hat sich mit diesen Büchern sozusagen ihre Kindheit und Jugend von der Seele geschrieben. Für beide Filme verfasste sie auch die Drehbücher und spielte beide Male die Rolle der Mutter (stellte also ihre eigene Mutter dar). Wenn man die Gelegenheit hat, beide Filme im Zusammenhang zu sehen – wie auf dem Kinder- und Jugendfilmfestival in Frankfurt am Main 1995 – wird deutlich, dass sie sich zu einem großen Epos zusammenfügen.

Israel 1953: Zwei Jahre sind vergangen seit "Aviyas Sommer", aus dem Mädchen Aviya (in beiden Filmen dargestellt von Kaipo Cohen) ist eine selbstbewusste Jugendliche geworden. Ihre Haare, die ihr die Mutter einst abgeschoren hatte, sind wieder lang, das Dorf, in dem beide gedemütigt wurden, liegt hinter ihr. Die Mutter lebt geistig verwirrt in einem Hospital, sie hat den Holocaust nicht überwunden, Aviya ist in einem der Youth Villages, die in Israel für junge Leute eingerichtet wurden, die "von dort" – aus den KZs – kamen. Von diesen Jugendlichen sind nur Aviya und ihre Freundin in Israel geboren, sie leiden aber ebenso unter dem Eindruck des Nazi-Terrors.

Der Film beginnt mit einer kurzen Szene im Winter – der Junge Mischa wird von den Heimbewohnern gesucht und kurz darauf tot im See gefunden. Harter Schnitt. Die folgende Sequenz zeigt die Jugendlichen (jetzt im Sommer) leidenschaftlich über Wiedergutmachungsgelder aus Deutschland für Holocaustopfer streitend. Die Diskussion bricht längst Verdrängtes wieder auf, die psychischen Verletzungen, die die unvorstellbare Kindheit bei den jungen Heimbewohnern hinterlassen hat, aber auch schöne Erinnerungen, die schon lange vergessen geglaubt waren, tauchen wieder auf.

Die Kinder erinnern sich, jedes für sich, oder sie ergänzen sich gegenseitig, wenn sie überlegen, wie es zu dieser Zeit wohl in Polen aussieht, oder wenn sie verstummte Lieder summen. Jeder kann solche Bruchstücke äußern, ohne Angst haben zu müssen, weiter ausgefragt zu werden. Jurek und Se'ewik vollführen mitten in der Nacht wieder ihren Wolfstanz, filmisch bereits angekündigt durch aufkommenden Sturm und im Wind flatternde Wäsche. Das nächtliche Geheul der beiden ängstigt die anderen, aber niemand würde es wagen, ihren Ausbruch zu unterbrechen. Wir lernen Jugendliche kennen, deren Schicksal sie zu sehr extremen Charakteren geformt hat, wir erfahren jedoch nichts Konkretes über ihre Vergangenheit, weil es nicht üblich war, darüber zu sprechen.

Und da ist noch Yola, die Kindliche mit ihrem Kuschelkissen, ihr Vater ist in Polen wieder aufgetaucht. Unter Freudentränen lässt sie sich von den anderen, die besser polnisch sprechen, die wichtigsten Sätze für das Wiedersehen mit ihrem Vater vorsagen. Wie die Teenager zusammenhocken – die Kamera mittendrin –, sich mit Yola freuen und für sie polnische Sätze formen, gehört zu den stärksten Szenen des Films. Doch mitten in das Abschiedsfest für Yola bricht die Nachricht vom plötzlichen Tod des Vaters – alle nehmen an ihrem Schicksal, ihrer Trauer um den lange verschollen geglaubten Vater teil.

Nur Mira nicht, die einzige, die nicht in die Gruppe integriert ist. Ihr Schicksal erfahren wir – ebenfalls als einziges – beinahe vollständig: Ein Ehepaar taucht auf und behauptet, ihre Eltern zu sein. Die folgende Gerichtsverhandlung bringt Mira an ihre äußersten psychischen Grenzen – einem Zusammenbruch nahe, erinnert sie sich an ihre wirklichen Eltern. Diese Episode nimmt gegen Ende des Films sehr breiten Raum ein. Aviya ist hier eher die Beobachtende, die Miras Erinnerung miterlebt. Erst am Schluss ergreift Aviya, unter dem Eindruck der anderen Schicksale, selbst die Initiative: Sie besucht ihre Mutter im Hospital und findet endlich das Grab des Vaters – für sie entsteht das Gefühl, nach Hause zu kommen, nicht mehr im Ungewissen zu sein, sondern ihn, der vor ihrer Geburt starb, endlich gefunden zu haben.

Unter dem Maulbeerbaum – das ist der Ort, wo alle wichtigen, frohen wie traurigen Erlebnisse verarbeitet werden. Mit dem Gärtner haben die Kinder um den Hügel des Baums herum Tulpen gepflanzt – ein Zeichen der Hoffnung. Am Ende, wenn Mira und die Gruppe von der Gerichtsverhandlung heimkehren, sind alle Blumen in den lichtesten Farben erblüht.

Während sich "Aviyas Sommer" sehr konzentriert und für den Zuschauer bedrückend auf die Geschichte von Mutter und Tochter in ihrem kleinen Dorf beschränkte, ist die Dramaturgie von "Unter dem Maulbeerbaum" offener und – trotz der nicht weniger bedrückenden Schicksale – optimistischer. Ruhige, lange Kamerafahrten und lange Einstellungen zeigen atmosphärisch dichte Bilder, zum Teil aus ungewohnter Perspektive. Gegen Ende verwendet Eli Cohen eine Zeitlupe, die einzige des Films, von unten aufgenommen – die Kinder springen vom Lastwagen, so wie die Kinder in Andrzej Wajdas Film "Korczak". Und im letzten Bild des Films tanzt Mira allein durch die Blumenpracht zum Maulbeerbaum – die Hoffnung hat sich erfüllt, trotz der drückenden Vergangenheit beginnt ein neues Leben.

Katrin Hoffmann

 

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