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Ausgabe 66-2/1996

THE KILLING OF A CAT

KISSAN KUOLEMA

Produktion: Oy Kinotuotanto LTD / Moviemakers AB; Finnland / Schweden 1994 – Regie und Buch: Raimo O Niemi, nach dem Roman von Taru Väyrynen – Kamera: Pertti Mutanen – Schnitt: Lena Paersch – Musik: Yari – Darsteller: Marja Pyykkö, Kalle Ahola, Kaija Kangas, Ero Saarinen, Pentti Halonen, Sulevi Peltolta – Laufzeit: 90 Min. – Farbe – Weltvertrieb: Oy Kinotuotanto LTD, Katajanokankatu 6, 00160 Helsinki, Finnland, Tel: 00358-0-663217, FAX: 00358-0-662048 (35 mm) – Altersempfehlung: ab 14 J.

Der finnische Jugendfilm befasst sich mit einem in letzter Zeit in der öffentlichen Debatte und damit auch in Kino und Fernsehen – fast zu – angesagten Thema: dem sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Raimu O Niemi hatte dazu nicht die schlechteste Idee: Er kleidete seine Geschichte in die Form eines zuweilen ungemein spannenden Krimis.

Ari, ein junger Erzieher, verbringt sein Anerkennungsjahr in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche, das nur scheinbar vollkommen isoliert mitten in den finnischen Wäldern liegt. Denn auch dort findet Gewalt – vor allem sexuelle – gegen die statt, die doch gerade hierhin geschickt wurden, um ihre miesen Erfahrungen mit der Gesellschaft zu verarbeiten und bessere (sprich gesellschaftsfähige) Menschen zu werden. Bei einer seiner ersten Nachtschichten stellt Ari nicht nur fest, dass die fast 18-jährige Nitta (wieder mal) ausgebüchst ist; er findet auch die junge Siru völlig verängstigt in der Dusche, wohin sie sich vor Verfolgern geflüchtet hat, die Ari jedoch nicht ausmachen kann. Kurz darauf wird auch Annalena, die Tochter der Heimleiterin, bei der Rückkehr von einem ihrer Ausflüge misshandelt, in einem etwas abseits stehenden Gebäude aufgefunden. Für die Heimleitung ist die Sache schnell klar. Das kann nur Saku gewesen sein, der als ehemaliger Heiminsasse inzwischen im Knast sitzt, aus dem er jedoch unlängst ausgebrochen ist. Die Mädchen wissen es jedoch besser: Der Täter ist im Heim zu suchen, und Annalena war nicht sein erstes Opfer. Doch sie schweigen aus Angst, dass ihnen doch niemand glauben würde. Auch Aris unkonventionelle Kollegin Liisa glaubt nicht an Sakus Schuld, dafür kennt sie ihn zu gut und versteckt ihn sogar in der Wohnung.

Ari gerät nicht nur deswegen immer mehr in den Konflikt zwischen den strengen Regeln des Heims und seinem Gewissen, das ihn zur Solidarität mit den Schutzbefohlenen treibt; und das nicht erst, als er sich ausgerechnet in Nitta verliebt, die des nachts wechselnde sexuelle Abenteuer in der Stadt sucht. Derweil spitzt sich die Lage im Heim selbst zu. Nitta wird ein Ultimatum gestellt: Wenn sie noch Mal abhaut, kommt sie in den Jugendknast. Siru wird vom Vergewaltiger als nächstes Opfer auserkoren und bringt sie fast um, tötet dann auch noch Nittas geliebte Katze, um die junge Frau endgültig zu brechen, die als Stärkste der Gruppe seinen offensichtlichen Machtgelüsten im Wege steht. Doch diese Tat wird der Wendepunkt: Auf sich gestellt, beschließen die Jugendlichen, dem Mann eine Falle zu stellen und ihn eigenhändig zu richten.

O Niemis zweiter Kinofilm besticht durch sein Gespür für spannende, ja unheimliche Atmosphäre und sein Einfühlungsvermögen in seine (zumeist weiblichen) Charaktere. Dieses ist sicher auch schon in der Romanvorlage begründet, in der die Autorin ihre eigenen Erfahrungen als Sozialarbeiterin spiegelt. Es sind darum vor allem die intensiv gespielten und differenzierten Mädchenrollen, die von dem Film im Gedächtnis bleiben: Zwar sind sie alle Opfer (nicht nur des Vergewaltigers) geworden, aber jede reagiert durchaus unterschiedlich. Verständlich, dass bei solcher Konzentration auf die weiblichen Figuren die männlichen Insassen im Hintergrund bleiben und mehr skizziert als charakterisiert werden. Und auch die männlichen Erzieher werden eher als mögliche Verdächtige denn als eigenständige Figuren vorgeführt und sind nicht frei von Klischees. Hier offenbart der Film manche dramaturgische Schwäche; denn mindestens einer von ihnen ist so schmierig, dass er schon gar nicht der Böse sein kann, was dann doch ein wenig zu sehr an "Tatort" und ähnliche Fernseh-Krimi-Serien erinnert.

Das macht der Film aber durch seine dichten Spannungssequenzen mehr als wett, die nicht nur vordergründigem Nervenkitzel dienen, sondern gerade weil sie so unter die Haut gehen, auch männlichen Zuschauern zumindest ein wenig der Angst vor Vergewaltigung vermitteln, mit der Frauen in dieser Männerwelt leben müssen; und das nicht nur im Erziehungsheim. Seine glaubwürdige Intensität verdankt der Film auch der Wahl des Schauplatzes; schließlich wurde er in einem echten Heim (wenn auch mit Schauspielern und nicht mit Insassen) gedreht. O Niemi beleuchtet dabei grundsätzliche Fragen zum Themenkomplex Heimerziehung und Resozialisierung schwer erziehbarer Jugendlicher; so ist es wohl durchaus Absicht, dass der "Held" am Ende den Job schmeißt, weil er sich im Konflikt zwischen den starren Regeln und seiner Solidarität mit den Opfern für letzteres entscheidet. Neben der dramaturgischen Funktion des Happy Ends zwischen Nitta und Ari für den Zuschauer, der damit erleichtert das Kino verlassen kann, ist das auch ein fast programmatischer Schluss: Man kann nicht im System arbeiten und zugleich mit den Opfern desselben solidarisch sein. Diese inhaltliche Radikalität hatte man über 20 Jahre nach Ulrike Meinhofs legendärem "Bambule" kaum mehr erwartet: "Fürsorgeerziehung verbessert nicht die miese Situation des proletarischen Jugendlichen, sondern zwingt ihn dazu, sich damit abzufinden", hatte Ulrike Meinhof 1970 in ihrer Vorbemerkung zu "Bambule" geschrieben und daran hat sich grundsätzlich nichts geändert. Das hat Ari erkannt, auch darum verlässt er das Heim und nicht nur wegen seiner Liebe zu Nitta.

Lutz Gräfe

 

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