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Ausgabe 71-3/1997

HUNGER – SEHNSUCHT NACH LIEBE

Produktion: Perathon Film- und Fernseh GmbH; Deutschland 1997 – Regie: Dana Vávrová – Buch: Dana Vávrová, Uli Buchner – Kamera: Peter von Haller – Schnitt: Norbert Herzner – Musik: Winfried Grabe – Darsteller: Catherine Flemming (Laura), Kai Wiesinger (Simon), Christiane Hörbiger (Lauras Mutter), Jürgen Schornagel (Simons Vater), Barbara Focke (Simons Mutter) u. a. – Länge: 97 Min. – Farbe – Verleih: Buena Vista (35mm) – Alterseignung: ab 14 J.

Laura, eine junge Frau Mitte zwanzig, hat das, wovon andere träumen: eine gute Arbeit, eine eigene Altbauwohnung. Sie ist intelligent und attraktiv. Alles ist perfekt an ihr: die Wortwahl, der Sitz der Frisur, das Make-up, die farblich fein abgestimmte Kleidung korrespondierend mit der Büro- und Wohnungseinrichtung – klar, übersichtlich, geschmackssicher – die ganze Frau ein Designer-Modell des ausgehenden Jahrtausends. Ihr Leben ist die perfekte Tarnung, denn hinter der Fassade herrscht Chaos. Laura ist fresssüchtig, leidet an Bulimie. Sie isst nie in Gegenwart anderer, weil die Gefahr der Sucht latent vorhanden ist. Den "Stoff" bunkert sie im Bürosafe und zu Hause im Kühlschrank, riesige Mengen Süßigkeiten, Würstchen, Mayonnaise, Rollmöpse, Konserven, egal was, Hauptsache, es lässt sich verschlingen und wieder auskotzen. Laura ist unglücklich in ihrer Isolation. Bis ihr Simon begegnet, lässig, lieb, tagsüber auch er gestylt im Juweliergeschäft der Eltern arbeitend. Doch abends wird sein Leben bunt und sinnlich, wie die Graffiti, mit denen er nicht nur in Kneipen, sondern auch in der Werbebranche Erfolgserlebnisse hat. Das Geheimnisvolle, Ungereimte an Laura fasziniert ihn, er verliebt sich in sie. Auch sie sehnt sich nach Liebe, doch die Fresssucht ist stärker. Immer wieder läuft Laura davon. Simon versteht gar nichts, stuft sie schließlich als "Zicke" ein und entfernt sich. Nach Lauras rührendem Wieder-Annäherungsversuch fahren sie gemeinsam in die Toskana. Laura gibt sich Simon hin, nicht den eingekauften Lebensmitteln. Hier ist Zeit für ihr Geständnis: "Ich bin nicht so perfekt wie du glaubst." – "Na und? Wer ist das schon?" Und: "Ich bin glücklich", er: "Ist doch gut.". Zu Hause ist wieder nichts gut. Bei einem Besuch in seiner Familie erfährt Simon erstmals Näheres aus ihrem Vor-Leben und wird unfreiwillig Zeuge eines heimlichen Fressanfalls. Er ist völlig überfordert und reagiert "normal", rüttelt und schüttelt sie, läuft davon, voller Abscheu und Enttäuschung. Sie lädt ihn zum Essen ein und zelebriert ihre Sucht, knallhart und ohne Erbarmen – gegen sich, gegen Simon, gegen die Liebe. Ein Coming out, das ihn vertreibt – und zurückführt in ihre Arme. Ein hoffnungsvolles Film-Ende, das den Anfang einer wahren Beziehung signalisiert.

Dana Vávrová, 29 Jahre, Schauspielerin, Mutter von drei Mädchen und Frau von Joseph Vilsmaier, hat das Thema Bulimie für ihr Regiedebüt gewählt, richtiger: das Thema Liebe. Denn Liebe ist es, wonach sich die Menschen sehnen, Liebe hält die Welt zusammen, nicht Armani, Allessi und Jil Sander. Lauras Sucht setzt sie filmisch aggressiv und krass um: Die sich anbahnenden Fressanfälle werden in gleißendes Licht getaucht, dazu Nerven zerrender Trash-Sound, die Sucht als Attacke, Angriff, immer wieder.

Die Regisseurin ist nicht so naiv zu meinen, dass die Liebe die Sucht heilt. Sie hat dieses Thema über zwei Jahre recherchiert, gelesen, mit betroffenen Frauen gesprochen. "Das Krankheitsbild oder der Krankheitsverlauf hat mich dabei nie interessiert", sagt sie. Und: "In unserer immer kälter werdenden Welt gehen uns die Dinge wie Freundschaft, Zuneigung oder einfach so sein zu dürfen, wie man ist, immer mehr ab." Ihr ist es gelungen, diese kalte Welt filmisch aufregend zu inszenieren. Catherine Flemming und Kai Wiesinger als Laura und Simon spielen glaubwürdig. In keiner Szene denunziert die Regisseurin ihre Figuren, sondern baut Mitgefühl beim Zuschauer auf. Dana Vávrová hat einen engagierten Film zum Thema Sucht gedreht, der klarmacht: Hinter jeder Sucht steckt eine Sehnsucht – die Sehnsucht nach Liebe. Wonach denn sonst?

Gudrun Lukasz-Aden

 

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Ausgabe 71-3/1997

 

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