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Ausgabe 74-2/1998

BUTCHER BOY – DER SCHLÄCHTERBURSCHE

THE BUTCHER BOY

Produktion: Warner / Geffen Pictures; Irland 1997 – Regie: Neil Jordan – Buch: Neil Jordan, Patrick McCabe, nach dem Roman von Patrick McCabe – Kamera: Adrian Biddle – Schnitt: Tony Lawson – Musik: Elliot Goldenthal – Darsteller: Eamonn Owens (Francie Brady), Stephen Rea (Benny Brady), Aisling O'Sullivan (Annie Brady), Fiona Shaw (Mrs. Nugent), Alan Boyle (Joe Purcell) u. a. – Länge: 106 Min. – Farbe – FSK: ab 12 – Verleih: Warner Bros. (35mm) – Altersempfehlung: ab 14 J.

Auf sich allein gestellt, das ist der zwölfjährige Francie schon seit früher Kindheit. Die hypernervöse Mutter leidet an psychischen Störungen, der abwechselnd lethargische und jähzornige Vater, ein erfolgloser Saxophonist, hat sich dem Alkohol verschrieben. In einer bigotten irischen Kleinstadt zu Beginn der 60er-Jahre findet der aufmüpfige Junge nur in dem Nachbarsjungen Joe einen Freund und 'Blutsbruder'. Inspiriert von abenteuerlichen Fernsehserien und Comics, zieht sich Francie gern in eine Phantasiewelt zurück, wenn er nicht gerade der verhassten Nachbarin, der pedantischen Engländerin Mrs. Nugent, Streiche spielt. Nach außen markiert Francie gern den starken Mann – nach dem Motto "Frechheit siegt!". Doch innerlich wird er nur schwer damit fertig, dass er ohnmächtig zusehen muss, wie seine Familie auseinander bricht.

Als er aus Rache für eine weitere herzlose Attacke seiner bigotten Erzfeindin, die die Bradys gerne "Schweine" nennt, die Wohnung der Nugents verwüstet, sorgt sie dafür, dass er in einer streng geführten Besserungsanstalt landet. In den Heimatort zurückgekehrt, verdingt er sich im örtlichen Schlachthaus, wo er vor allem die bluttriefende Drecksarbeit verrichten muss. Die entscheidende Wende im Leben des Underdogs bringt der "Verrat" Joes. Dass der sich ausgerechnet mit dem strebsamen Sprössling der hochnäsigen Mrs. Nugent verbündet, verletzt Francie mehr als der Freitod der Mutter oder hässliche Alkoholtod des Vaters. Von nun an schert sich der junge Außenseiter nicht mehr um gesellschaftliche Konventionen. Getrieben von immer neuen Demütigungen steigert sich Francie in Wahnvorstellungen, bis er in einem brutalen Befreiungsschlag Mrs. Nugent, die in seinen Augen nur eine Außerirdische sein kann, niedersticht.

Trotz der satirischen Seitenhiebe auf kleingeistige Spießer und pädophile Geistliche kommt der Film des Iren Neil Jordan, der auf dem gleichnamigen Bestsellerroman seines Landsmanns Patrick McCabe beruht, keineswegs als dröges sozialkritisches Moralstück daher. Vielmehr hat Jordan eine gute Portion schwarzen Humors in das groteske Jugendporträt gepackt, das aus der Perspektive des erwachsenen Helden erzählt wird, der am Ende als geheilt aus düsteren Gefängnismauern entlassen wird. Dessen lakonisch-sarkastischen Off-Kommentare und bonbonfarbenen visionären Erscheinungen der Jungfrau Maria, die Francie in der größten Not mit Tipps zur Seite steht, geben der temporeichen Inszenierung ihre besondere Note. Gespielt wird die Maria übrigens von der irischen Sängerin Sinéad O'Connor. "Wenn ich ein Genre auswählen müsste, dann ist es eine sehr schwarze Komödie, die zur Tragödie wird", sagte der Regisseur in einem Interview. Der ausgefeilte Soundtrack von Elliot Goldenthal, der bereits die Musik der beiden letzten Jordan-Filme besorgte, verstärkt die intendierten 'gemischten Gefühle' beim Zuschauer.

Obwohl Jordan vor einer drastischen Schilderung des Mordes nicht zurückschreckt, macht gerade der Verzicht auf eine Verdammung des psychopathischen Protagonisten "Butcher Boy" zu einem irritierenden, ja verstörenden, zugleich faszinierenden und kraftvollen Stück Kino. "Es ist klar, dass ich sein Töten für falsch halte! Ich will, dass die Leute verstehen, warum aus ihm ein Mörder wird, ein Monster", so der 47-jährige Regisseur.

Auf der Berlinale 1998 zeichnete die Offizielle Jury diesen Film mit einem Silbernen Bären aus und sprach zu Recht dem 13-jährigen Hauptdarsteller Eamonn Owens "für seine erstaunliche Leistung" eine lobende Erwähnung aus. Jordan hatte den Debütanten, der über keinerlei schauspielerische Erfahrung verfügt, den sommersprossigen Schlächterburschen aber mit hinreißendem Temperament verkörpert, unter mehr als 2.000 Kandidaten ausgewählt.

Mit dem atmosphärisch dichten und phantasievollen Außenseiterdrama knüpft Jordan erfolgreich an das sensible Pubertätsdrama "Miracle – Ein geheimnisvoller Sommer" (1991) und das märchenhafte Ambiente von "Zeit der Wölfe" (1984) an. Seine zehnte Regiearbeit zeigt nach "The Crying Game" (1992), der ihm einen Oscar für das beste Originaldrehbuch einbrachte, einmal mehr: Seine besseren Filme hat der Ire, der seit seinem Durchbruch mit "Mona Lisa" (1986) in Hollywood regelmäßig Großproduktionen wie "Interview mit einem Vampir" (1994) realisieren kann, bisher in seiner Heimat gedreht. So wohnt er denn nach wie vor in Dublin, wo er neben seiner Filmarbeit weiter als Schriftsteller tätig ist.

Reinhard Kleber

 

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