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Ausgabe 74-2/1998

"Es ist ein wunderbarer Filmtitel, nur ein Wort ..."

Gespräch mit Regisseur Gary Goldman zu "Anastasia"

(Interview zum Film ANASTASIA)

"Anastasia" von Don Bluth und Gary Goldman ist bei der neuen Fox Animation in Phoenix, Arizona, entstanden. Bluth und Goldman produzieren nun ihre Filme nicht mehr selbst. Sie sind jetzt "Angestellte" der Fox Animation, die aufgebaut wurde, um – im wesentlichen – abendfüllende Zeichentrickprojekte zu realisieren, das heißt, im Sinne der Definition von "Animation", Geschichten "zum Leben zu erwecken", und nicht einfach inhaltsleere Zeichnungen in Bewegung zu versetzen.

KJK: Ich hatte im Film den Eindruck, dass "Anastasia" insgesamt ein wenig wie "My Fair Lady" auf russisch wirkt. Und zwar bis hin zu den Musicalnummern. War das Absicht?
Gary Goldman: "Ja. Ursprünglich hatten wir eine Liste von zwölf Projekten, und auf dieser Liste befand sich auch 'My Fair Lady'. Wir mochten 'My Fair Lady', und Bill Mechanic, der Chef der Fox, mochte 'My Fair Lady'. Aber Don und ich sagten, der Film ist so perfekt gemacht, dass wir davon kein Trickfilm-Remake machen könnten. 'Anastasia' war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht auf der Liste. Und im Mai 1994 sagte Bill schließlich, wir sollten 'Anastasia' in die Liste aufnehmen. Die Fox hatte die Rechte an der Geschichte. Es ist ein wunderbarer Filmtitel, nur ein Wort, und der Titel ist zugleich der Name der Heldin. Siebzehn Autoren haben am Drehbuch gearbeitet, auch wenn nur vier im Film genannt werden. Unter anderem hat Carrie Fisher mitgearbeitet. Sie kennen ja sicher Carrie Fisher, die Darstellerin der Prinzessin Leia in 'Star Wars'. Sie ist heute in Hollywood eine bekannte Drehbuchautorin, ein Script-Doktor. Sämtlicher Dialog, der während der Fahrt im Zug vorkommt, und die Begegnung zwischen der Großmutter und Anastasia und einige andere Szenen sind von ihr geschrieben worden."

Wieso hat man sich eigentlich entschlossen, die Geschichte als Trickfilm zu machen und nicht gleich als Realfilm?
"Ganz einfach: Weil wir Trickfilmer sind. Ehrlich gesagt, haben wir während der ganzen Produktion manchmal geklagt, dass das doch eigentlich ein Realfilm sei. Weshalb machen wir ihn da als Trickfilm? Aber als wir dann Bartok und Rasputin in die Geschichte einführten, fing es an, als Trickfilm Sinn zu machen."

Wenn wir schon bei Rasputin sind, dann frage ich mich, für welche Altersgruppe Sie selbst den Film sehen. Einiges an Rasputin und seiner Umgebung – nach dem Ertrinken muss er seine Rache ja aus der Unterwelt fortführen – wirkt ja nicht sehr kindgerecht.
"Diesen Einwand habe ich schon gelegentlich gehört. Aber den Kindern scheinen diese Szenen Spaß zu machen. Das ist das Abgründige an der Kinderseele. Diese Szenen sind aber auch im Film, da wir trotz einer Heldin in der Hauptrolle keinen Film für Mädchen, sondern einen für Mädchen und Jungen machen wollten. Die Hauptzielgruppen für diesen Film, würde ich sagen, sind – auch wegen der Liebesgeschichte – die 12- bis 16-Jährigen. Ich finde eigentlich, der Film könnte sich, wie 'Beauty and the Beast', als guter 'dating film' erweisen, als Film, den sich Mädchen und Jungen gemeinsam anschauen. In den USA wurde er als Familien- und Kinderfilm beworben."

In einigen Szenen auf dem Boot wird man ein wenig an 'Titanic' erinnert. Speziell wenn man die Darsteller vergleicht.
"Das ist aber ein schönes Kompliment. Andererseits erinnert die Frisur Dimitris durchaus auch an die meines jüngsten Sohnes, der einen Sommer lang im Studio als Aushilfe arbeitete. Wir wollten einen normalen jungen Mann, der Sexappeal hat, ohne muskelbepackt zu sein. Und der Sprecher John Cusack hat die Figur natürlich auch beeinflusst."

Bei zwei Regisseuren an einem Film stellt sich die Frage, wie sieht es mit der Arbeitsteilung aus?
"Wir haben eine sehr merkwürdige 'Ehe'. Don steht an der Front, bei der Vorbereitung der Produktion, ich führe dann die eigentliche Produktion aus und kümmere mich um all die Details wie Schneeflocken usw. Er entwirft die Figuren, ich lasse ihn dabei in Ruhe, dann produziere ich und er lässt mich in Ruhe. Diese Methode hat für uns recht gut funktioniert."

Warum ist Fox Animation eigentlich in Phoenix angesiedelt?
"Tja, ich habe früher zwar in Los Angeles gelebt, aber das hat mir, trotz der guten Restaurants, nicht ganz gefallen. Phoenix ist nur eine Flugstunde entfernt und es ist steuerlich günstiger, außerdem sind die Lebenshaltungskosten und die Mieten viel niedriger. Man hat über 300 Tage im Jahr Sonne. Es gibt alles, was man sich denken kann, viele junge Leute, fünf Universitäten, drei Millionen Einwohner, viele Sportvereine, viel zu machen."

Können Sie noch etwas über zukünftige Projekte sagen?
"Momentan bereiten wir zwei Projekte vor, für die erste Drehbuchentwürfe bis April respektive Juli fertig sein sollen. Wir machen außerdem auch eine Produktion über Bartok, der beim Publikum so gut ankam, dass wir da etwas produzieren, um zu sehen, ob das ankommt, aber das wird eine kleinere Produktion, die nur ein Jahr beansprucht. Bei den beiden nächsten Großproduktionen handelt es sich zum einen um eine Adaption eines berühmten Theaterstücks aus New York, eine Art Parodie auf Märchen, zum anderen um ein Projekt, das in Afrika spielt, und das uns sehr am Herzen liegt. Je nach der Qualität der ersten Scripts zu beiden Projekten entscheiden wir, welches der beiden Projekte zuerst gemacht wird."

Ich habe den Eindruck, dass gelegentlich die Kombination traditioneller Animation und Computeranimation nicht hundertprozentig funktioniert. Etwa in der Szene mit der Spieluhr in der Hand – da bewegen sich die Bildelemente nicht ganz einheitlich.
"Ja, ich weiß. Mit einigen der Szenen hatten wir wirklich Probleme. Manche haben wir an die zehnmal gemacht, um alles haargenau aufeinander abzustimmen. Bei manchen Szenen dachten wir, die kleinen Unstimmigkeiten sind so unauffällig, dass sie der Großteil des Publikums nicht bemerkt. Also haben wir sie letztlich so gelassen, während andere Szenen immer wieder korrigiert wurden. Aber sehen Sie sich die Stabsliste von 'Glöckner von Notre Dame' an. Da werden 75 Computeranimatoren genannt und 57 Computeringenieure. Wir bei Fox haben 7 Computeranimatoren und 5 Computeringenieure. Und dafür sind wir eigentlich recht gut."

Mit Gary Goldman sprach Wolfgang J. Fuchs

 

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